Ein Gespräch mit Sinéad Burke zum Thema Barrierefreiheit und Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Modebranche und darüber hinaus
Mit der Ernennung zu einem der „besten Arbeitgeber für die Inklusion von Menschen mit Behinderung“ im Jahr 2022 gemäß dem Disability Equality Index erreichte Gucci letztes Jahr einen bedeutenden Meilenstein. 2023 wurde diese Auszeichnung erneut erzielt. Dieser Erfolg ist das Ergebnis verschiedener Initiativen, die Gucci in den letzten Jahren ergriffen hat, darunter die Verbesserung des Einkaufserlebnisses und der Barrierefreiheit durch die Partnerschaft mit AIRA. Hierbei werden Blinde und Menschen mit Sehbehinderung mit Ferndolmetschern verbunden, die ihnen per Smartphone in Echtzeit Zugang zu visuellen Informationen ermöglichen. Sinéad Burke, Gründerin und Geschäftsführerin von Tilting the Lens, teilt das Engagement und den Wunsch des Hauses, neue Normen in der Modewelt zu etablieren, die Kunden und Angestellten mit Behinderung mehr Möglichkeiten eröffnen.
„Wir haben die Chance, die Welt so zu gestalten, dass sie uns nachhaltiges Wachstum und Entwicklung ermöglicht – und dass sie für uns alle zugänglich ist.“
Was heißt es, in einer Welt zu leben, die nicht für Sie gemacht ist?
Mein Verständnis von Behinderung entwickelt sich fortlaufend weiter. Als Kleinwüchsige und Mensch mit einer körperlichen Behinderung waren meine Kindheit und Jugend von der Vorstellung geprägt, dass ich für den Mangel an Barrierefreiheit selbst verantwortlich sei und Hindernisse eigenständig aus dem Weg räumen müsse. Wenn ein Raum oder eine Aktivität für mich unzugänglich waren oder ich von etwas ausgeschlossen wurde, dachte ich, ich sei dafür verantwortlich; ich müsse diese Barrieren hinnehmen, da mein Körper Schuld sei und es allein in meiner Verantwortung läge, das zu ändern. Mit der Zeit hat sich meine Einstellung gewandelt und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass fehlende Barrierefreiheit eine universelle Erfahrung ist; eine Erfahrung, die einige häufiger machen müssen als andere. In ihr jedoch liegt unsere gemeinsame Chance, die Welt, in der wir heute, morgen und für immer leben, zu verändern.
Wie viele von uns sehen sich zum Beispiel mittlerweile Videos mit Untertiteln an, ob zur besseren Konzentration, zur Überwindung der Sprachbarriere oder als Hilfestellung, wenn die Lautstärke nicht zugänglich ist?
Worte tragen Bedeutung. Welche Sprache ist die richtige, um über Barrierefreiheit und Inklusion zu sprechen?
Im Kontext einer Behinderung kann Sprache sowohl persönlich als auch politisch aufgeladen sein. Für viele von uns ist die Verwendung einer „Identity First“-Sprache, also einer identitätsorientierten Sprache, mit Akzeptanz und einem guten Gefühl verbunden. Die Verwendung des Begriffs „behinderter Mensch“ anstelle von „Mensch mit einer Behinderung“ ist Ausdruck eines kulturellen Wandels: Wir glauben jetzt, dass Behinderung ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität und Erfahrung ist; ein Bestandteil, der unsere Persönlichkeit, unsere Motivationen und Ansichten maßgeblich beeinflusst. Das Behindertsein wird also mit Bewusstsein und Stolz zum Ausdruck gebracht.
Obwohl die Verwendung der identitätsorientierten Sprache zunimmt, bevorzugen viele weiterhin eine „Person First“-Sprache, also eine personenorientierte Sprache, bei der man sich selbst als Mensch mit Behinderung beschreibt.
„Diese Nuancierung geht noch weiter, sobald wir geografische Grenzen übertreten. In den Vereinigten Arabischen Emiraten zum Beispiel werden behinderte Menschen oft als ‚selbstbestimmte Menschen‘ bezeichnet.“
Bei der Sprache müssen wir den Menschen Raum geben, sich mit einem Vokabular zu identifizieren, mit dem sie sich wohlfühlen und das auch die internationalen Nuancen des Themas berücksichtigt. Die Lösung besteht darin, es immer wieder zu versuchen. Wir erleben zunehmend, dass nicht behinderte Menschen Angst haben, etwas falsch zu machen oder ins Fettnäpfchen zu treten, sodass sie es als einfacher empfinden, vielleicht am besten gar nichts zu sagen. Unser Zögern, einen Fehler zu machen, sollte niemals unserem Wunsch entgegenstehen, so viele Menschen wie möglich einzubeziehen und mit ihnen in Kontakt zu treten.
Wie kann man sich dem Thema also annähern? Sollte man sich bei der Förderung von Inklusion und Barrierefreiheit auf globaler Ebene auf die Details oder auf das große Ganze konzentrieren?
Bei Tilting the Lens beruht unsere Theorie des Wandels auf einem Ansatz, der von oben nach unten, von unten nach oben und von einer Seite zur anderen verläuft. Wir haben uns für diesen Weg entschieden, weil der Wandel nicht von heute auf morgen geschieht, sondern ein fortlaufender Prozess ist, bei dem der Fortschritt Vorrang vor der Perfektion hat.
Aus Unternehmenssicht bedarf es einer strategischen Vision von Seiten der Unternehmensleitung, die den Weg vorgibt, Erfolge misst, kollektive Verantwortlichkeit schafft und die erzielten Fortschritte kommuniziert. Diese Aufgabe kann jedoch nur durch individuelle Bemühungen und Aufklärung erfüllt werden. Sie kann weder durch eine einzelne Abteilung noch durch ein einzelnes Team oder ein einzelnes Budget verwirklicht werden. Ob sie erfüllt wird, hängt davon ab, wie wir unsere Mission verfolgen und umsetzen.
Menschen, die sich für diese Aufgabe einsetzen und sich fortlaufend für den Übergang von der Bewusstseinsbildung zum Handeln stark machen, verdienen unsere Wertschätzung. Sie sorgen dafür, dass diese Aufgabe immer wieder als Priorität wahrgenommen wird.
Um diese Aufgabe zu verwirklichen, bedarf es globaler Anstrengungen, aber auch lokaler Maßnahmen, die auf langfristige Veränderungen abzielen. Möchte eine Modemarke als offen wahrgenommen werden, muss sie Inklusion zu einer strategischen Priorität machen. Gucci bekennt sich zu dieser Priorität durch die Formulierung seines Ziels, „Menschen mit Behinderung mehr Möglichkeiten bei Gucci zu eröffnen“. Dieses Ziel wird vom Global Equity Board überwacht und umgesetzt. Das Ziel bezieht alle Abteilungen mit ein und umfasst Aktivitäten zu barrierefreien Einstellungsprozessen sowie zur Durchführung eines Pilotprojekts in verschiedenen Regionen, das die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung fördert. So sind Arbeitsabläufe für die Entwicklung und Gestaltung von Stores entstanden und es wurde die Möglichkeit geschaffen, Barrierefreiheit in den frühestmöglichen Stadien der Innovation im Einzelhandel und im Büro zu berücksichtigen. Darüber hinaus haben sich Chancen geboten, mit externen Organisationen wie AIRA zusammenzuarbeiten und die Digitalisierung damit nicht nur für mehr Barrierefreiheit, sondern auch für mehr Innovation zu nutzen. Erstmals wurde in diesem Zusammenhang auch eine Einladung an kreative Menschen und Führungskräfte mit Behinderung ausgesprochen, sich in dieser Branche einzubringen.
Hier finden Sie das vollständige Video mit Untertiteln.
Hier gelangen Sie zum Gucci Equilibrium Impact Report 2022.