Im Gespräch: Sinéad Burke + Tanya Compas Abschrift

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AMPLIFYING VOICES
kuratiert von
ANDREA TENERANI
Chefredakteur von Icon
Ehrengast
SINÉAD BURKE
Aktivistin für inklusive Mode

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TANYA COMPAS
im Gespräch mit
SINÉAD BURKE

Sinéad Burke: „Derzeit reden alle über Aktivismus, Aktivisten, Bündnisse, Möchtegern-Mitstreiter … und es gibt so viele von uns, die die Welt – unsere Welt – verändern wollen, aber wie sollen wir vorgehen? Viele denken, das muss durch Aggression, Rebellion oder Anarchie geschehen, und das sind alles positive, wirkungsvolle Methoden, um etwas zu verändern. Aber der Grund, warum ich mich so auf dieses Gespräch freue, ist, dass ich endlich mit einer Person reden kann, die ich schon seit langem bewundere, die Veränderungen und Revolutionen durch Freude erzeugt, das meine ich absolut ernst. Tanya Compas ist eine Aktivistin, die die Kluft zwischen öffentlicher und privater Arbeit auf scheinbar mühelose Weise überbrückt, was natürlich nicht so einfach ist, wie es aussieht. Aber, Tanya, ich tue dir vermutlich keinen Gefallen, wenn ich versuche, dich vorzustellen, also wie würdest du dich selbst privat und beruflich beschreiben?“

Tanya Compas: „Ich finde es toll, wie du mich vorgestellt hast, ich dachte: ‚Oh, das klingt echt super!‘ Also, ich heiße Tanya Compas, ich bin in erster Linie Jugendarbeiterin, und meine Arbeit dreht sich darum, queeren jungen Schwarzen Möglichkeiten zur Entfaltung zu verschaffen, sie zu unterstützen und zu motivieren. Als ich jünger war, dachte ich, Schwarze könnten nicht queer sein. Mit Anfang 20 merkte ich, dass ich queer bin, und mir wurde bewusst, dass es in meiner Kindheit und Jugend so gut wie gar keine queeren Schwarzen in meinem Leben gegeben hat, zumindest wusste ich nicht davon. Und ich dachte, wenn ich als Jugendliche solche Vorbilder gehabt hätte, hätte ich die verschiedenen Möglichkeiten gesehen, die mir offenstehen, die verschiedenen Lebensweisen, die ich hätte wählen können. Ich wünschte, ich hätte davon gewusst. Also, ja, das sind meine Erfahrungen, und darum arbeite ich jetzt schon seit sieben Jahren im gemeinnützigen Bereich und bin immer von jungen Leuten umgeben. Ich habe schon in Brasilien gearbeitet, in Kolumbien, in den USA, immer mit jungen Menschen, und in den letzten sechs Jahren im Vereinigten Königreich, und es war immer … ich habe jedes Mal etwas Neues über junge Menschen gelernt, und ich habe durch die Arbeit mit den jungen Leuten immer mehr über mich selbst erfahren. Ich glaube, die größte Erkenntnis, die ich aus meiner Arbeit mitnehme, ist, dass es wichtig ist, einen Ort der Freude zu schaffen, wo die seelischen Narben verheilen können, und wo es ein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt und man sich als Familie sieht. Ich habe den Eindruck, wenn wir mit Menschen aus bestimmten Communitys arbeiten, von denen wir wissen, dass sie einiges durchgemacht haben, konzentrieren wir uns oftmals nur darauf, über ihre Traumata zu reden und sie zu behandeln. Aber ich glaube, wir können viel mehr erreichen, wenn wir diesen Menschen einen Ort der Freude geben, der Gemeinschaft, wo sich echte zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln können, und ich denke, das versuche und erreiche ich mit meiner Arbeit. Dazu betreue ich die jungen Leute einzeln oder in Gruppen, aber ich nutze auch Social Media. Manche outen sich über Social Media, oder sie googeln oder erkunden mithilfe von Social Media ihre wahre Identität. Bei mir war es tatsächlich durch Instagram, ich glaube, ich habe nach dem Hashtag „queer black London“ oder so ähnlich gesucht. Und diese Mischung aus meiner Arbeit in den Social Media und meiner Online-Präsenz zusammen mit meiner Arbeit vor Ort ist einfach die ideale Kombination. Daraus ist sogar das Projekt Exist Loudly hervorgegangen, das ist jetzt meine neue Organisation, in der ich mit queeren jungen Schwarzen arbeite, in der sie positive Erfahrungen machen und eine Gemeinschaft finden können. Im letzten Monat ging es hoch her, ich habe 111.000 Pfund an Spenden gesammelt, das ist eine unglaubliche Menge Geld. Und dieses Geld ist nicht nur für Exist Loudly, sondern ich habe auch einen Teil zwischen fünf weiteren Organisationen im UK aufgeteilt, die mit queeren jungen Schwarzen und People of Colour arbeiten. Ich arbeite gerne mit verschiedenen Communitys zusammen und denke, dass eine einzelne Person oder Organisation nicht das alleinige Recht auf Spendengelder hat. Schließlich arbeiten wir doch alle zum Wohle von Queeren – queeren Schwarzen, schwarzen Communitys, eben diesen Gruppen. Und ich denke, man muss dafür sorgen – auch wenn man sich viel mit jungen Leuten befasst und ihre Gemeinschaft stärkt –, dass auch die Erwachsenen nicht zu kurz kommen und diejenigen von uns, die in und mit Gruppen arbeiten. Wir brauchen eine Community innerhalb der Community, denn dadurch wird unsere Arbeit für die jungen Menschen noch besser, noch einflussreicher. Wenn wir zum Beispiel jemanden an eine andere Organisation verweisen müssen oder jemand anders einfach besser in der Lage ist, einem unserer Schützlinge zu helfen, ist es doch viel besser, wenn ich demjenigen sagen kann: ‚Hey, ich kenne da jemanden, der arbeitet da und macht dies, ich habe schon mit ihm oder ihr zusammengearbeitet‘ statt nur ‚Schreibe eine E-Mail an info@ …‘. Ich glaube, dies ist der Beginn einer hoffentlich erfüllenden, lang anhaltenden Phase der Veränderungen, spürbarer Veränderungen, für queere junge Schwarze, die oft vergessen werden, wenn es darum geht, was es bedeutet, schwarz zu sein, und auch darum, queer zu sein. Ich glaube, wir lassen uns noch viel zu sehr einschränken, was unseren Blick auf bestimmte Communitys angeht, ja. Es ist eine sehr aufregende Zeit, es tut sich einiges. Es fällt mir schwer, mich selbst zu beschreiben, es gibt so viel zu erzählen.“

Sinéad Burke: „Also das war eine fantastische Vorstellung und vermutlich die beste Antwort, die ich je auf diese Frage erhalten habe. Ich möchte nur noch mal kurz zurückgehen, denn mir ist bewusst, dass sich unsere Zuschauer oder Zuhörer möglicherweise gerade in unterschiedlichen Phasen ihrer Selbstfindung und -aufklärung befinden. Ich verstehe vollkommen und stimme dir zu, dass es nicht deine Aufgabe ist, die breite Masse über deine eigenen Erfahrungen und deine Arbeit aufzuklären, aber letztens kam bei uns beim Abendessen ein Thema auf, über das ich gerne mit dir reden möchte. Es geht um die sprachliche Verwendung von ‚Queerness‘ und ‚queer‘. Und mein Vater, der in den 60ern und 70ern im UK aufgewachsen ist, sagte, diese Wörter durfte und darf man nicht verwenden. Und ich habe versucht, die Unterschiede und Nuancen zwischen dem Substantiv und dem Adjektiv zu erklären, was die Community angeht, und ich wollte fragen, ob du etwas darüber erzählen könntest, wer diese Wörter verwenden sollte oder kann, und wann sie angebracht sind.“

Tanya Compas: „Na klar, sehr gerne. Das ist eine ganz hervorragende Frage. Das hast du wirklich gut formuliert. Die Bezeichnung ‚queer‘ habe ich erst später kennengelernt. Deshalb habe ich mich auch zuerst als bisexuell geoutet. Dann hörte ich in meinem Freundeskreis den Begriff ‚queer‘ und fand, dass das eigentlich viel besser zu mir passt. Aber als ich anfing, mich selbst zu benennen, war es wie bei dir – es wurde beim Abendessen mit meiner Familie zu einem Diskussionsthema. Es ist, wie du gesagt hast – Menschen wie dein Vater, die in den 60ern, 70ern oder davor aufwuchsen, kennen ‚queer‘ noch als ein Wort, das auf eine sehr brutale Weise verwendet wurde. ‚Queer‘ wurde früher verwendet, um queeren Menschen, LGBTQ+-Menschen, wehzutun – meistens verbal, manchmal aber auch physisch. Und ich glaube, für viele aus den älteren Communitys ist dieses Wort noch mit viel Schmerz verbunden, und es fällt ihnen schwer, es für sich zu beanspruchen. Wir hingegen, die jüngeren Communitys, haben es uns längst zu eigen gemacht. Ich denke, ‚queer‘ ist eher politisch gemeint. ‚Queer‘ hat für jeden eine andere Bedeutung. Für mich ist ‚queer‘ ein fließender Begriff und umfasst die vielen verschiedenen Identitäten, in und mit denen die Leute existieren, auch LGBTQ+. Ich glaube, wenn man bei Google ‚LGBT‘ eingibt, erscheinen überwiegend Bilder von weißen schwulen Männern oder lesbischen Frauen, also man bekommt diese typischen Bilder, die aber vor Whitewashing nur so strotzen. Wenn du jedoch ‚queer‘ eingibst, wegen der politischen Komponente, siehst du auch Menschen anderer Hautfarben, oder Einwanderer, Asylsuchende und so weiter. Es hat also eine viel tiefergehende politische Bedeutung, und ich finde, es schafft auch einen Raum, in dem die Menschen sich selbst definieren können, vielleicht eine Lebensweise wählen können. Ich finde, ‚queer‘ verschafft mir einfach einen Raum, in dem ich sein kann und in dem ich meine Lebensweise auch ändern kann, ohne mich ständig neu definieren und umbenennen zu müssen. Andere wiederum verwenden andere Wörter, manche bezeichnen sich als lesbisch oder schwul, andere als queer, und wieder andere verwenden abwechselnd beide Bezeichnungen. Meistens beziehen sich die Leute auf die Queer-Community als Ganzes, im Gegensatz zur LGBTQ+-Community, vor allem wir aus meinem Freundeskreis, wir bezeichnen es als Queer-Community. Ich glaube aber auch, dass sich der Sprachgebrauch stetig ändert und dass vor allem wir in der Community immer wieder neue Bezeichnungen finden, mit denen wir uns wohlfühlen und in der Community heimisch fühlen. Manche Bezeichnungen oder Wörter haben vielleicht zu irgendeinem Zeitpunkt zu uns gepasst, aber wir sind ihnen entwachsen. Oder manchmal hören wir ein Wort und denken: ‚Hey, so will ich selbst genannt werden‘, so wie ich, als ich ‚queer‘ hörte. Aber andere wollen das überhaupt nicht, und ich denke, es liegt nicht daran, wer das Wort benutzt, sondern mit welcher Absicht. Wenn zum Beispiel meine Hetero-Freunde von einem ‚Queer-Abend‘ sprechen, zu dem ich gehe, weiß ich, dass sie mich damit nicht beleidigen oder mich oder meine Community verurteilen wollen, sie ordnen es einfach nur so ein, wie ich es sagen würde. Wenn sie jedoch auf jemanden zeigen und sagen würden: ‚Guck mal, die Queeren da drüben‘, klingt das schon anders, das muss nicht sein. Ich finde, es kommt vor allem auf die Absicht an. Wenn man dieses Wort verwendet, muss man – vor allem, wenn man nicht selbst dazugehört – offen für Kritik sein von der Person, die man so bezeichnet. Es kann durchaus sein, dass jemand sagt: ‚Ich mag dieses Wort nicht‘, und dann kommt es nicht gut an, zu sagen: ‚Aber alle anderen sagen es doch auch‘, selbst wenn es stimmt. Es liegt bei der Person, die es betrifft, ob sie so genannt werden oder das Wort selbst verwenden möchte oder nicht. Ich habe auch schon auf Podien gesessen, mit überwiegend schwarzen Diskussionsteilnehmern, mit einem Publikum aus überwiegend weißen schwulen Männern, und als ich das Wort ‚queer‘ sagte, ist ihnen die Kinnlade runtergeklappt. Aber das liegt auch daran, dass dieses Wort gegen sie verwendet wurde, daher kann ich ihre Reaktion durchaus verstehen. Ich finde, Sprache ist etwas Wunderbares, und in der Queer-Community haben wir so viele verschiedene Wörter und Sprachen und Dinge. Viele beanspruchen zum Beispiel auch das Wort ‚Dyke‘, also ‚Lesbe‘, für sich, es gibt viele lesbische Frauen, von denen einige ‚Dyke‘ bevorzugen und verwenden. Es hatte ursprünglich auch eine negative Konnotation und galt als Beleidigung, aber wie gesagt, manche haben sich dieses Wort und die Macht, die damit einhergeht, zu eigen gemacht. Also es geht darum –“

Sinéad Burke: „Ich denke, es geht ums Zuhören.“

Tanya Compas: „Ja, absolut. Es geht ums Zuhören –“

Sinéad Burke: „Ich denke, es geht darum zuzuhören und Fragen zu stellen.“

Tanya Compas: „Ja, auf jeden Fall.“

Sinéad Burke: „Denn worauf mein Vater bei dieser Diskussion eigentlich hinauswollte, war: ‚Woher soll ich denn wissen, was ich sagen soll? Wie bezeichne ich die Person, welches Wort verwende ich?‘ Und das ist interessant, denn mein Vater hat eine Behinderung, genau wie ich. Er ist auch klein. Und was die Beanspruchung der Sprache oder das Verständnis der politischen Bedeutung der Sprache für uns selbst angeht, sind wir, mein Vater und ich, sehr eigen hinsichtlich der Bezeichnungen, die wir bevorzugen. Wir wollen lieber ‚kleine Menschen‘ genannt werden. Ich habe Freunde, die ‚kleinwüchsig‘ bevorzugen. Und wie du weißt, kommt es auf diese Verbindung zwischen Minderheiten oder zwischen Communitys an, und darum ist es so wichtig, das Ganze als Schnittmenge zu betrachten und anzugehen. Wenn man die Leute fragt, welche Ausdrucksweise sie bevorzugen, so wie man sie fragt, welche Pronomen sie bevorzugen, womit sie sich wohlfühlen, dann gibt man ihnen die Möglichkeit, ihre eigene Geschichte auf ihre eigene Weise zu erzählen. Und ich finde, dass Communitys wie unseren – nicht, dass sie sich ähneln, aber sie haben in manchen Aspekten dasselbe durchgemacht – nie die Chance geboten wurde, unsere eigenen Geschichten zu erzählen, und es ist spannend, auf deinen ersten Punkt zurückzukommen – den mit den Vorbildern, als du jünger warst. Also von welchen Leuten aus dem Kulturbereich wusstest du, dass sie queer sind? Gab es berühmte Schwarze, von denen du wusstest, dass sie queer sind?“

Tanya Compas: „Nein, eigentlich gar keine. Diese Frage wird mir ziemlich oft gestellt, als zum Beispiel ‚Wer waren deine queeren Vorbilder?‘, dabei hatte ich gar keine. Ich glaube, das erste Mal, dass ich so etwas tatsächlich sah, war in einer Fernsehsendung namens Sugar Rush, die vor langer Zeit auf Channel Four lief, als ich in der Oberschule war, da küsste eine Mixed-Race-Frau eine andere Frau, und ich sah mir das wieder und wieder an. Ich habe mich damals aber nicht geoutet, ich begriff meine Sexualität erst mit 23. Und ich sage das, weil ich den Eindruck habe, wenn man sich erst später im Leben outet, dass die Leute dann denken, man hätte sich versteckt – im übertragenen Sinn –, und man hätte versucht, seine Identität all die Jahre zu verbergen. Aber so war das bei mir nicht, mir war einfach nicht bewusst, dass ich queer sein könnte. Wenn ich zurückblicke und überlege, wie ich manche Sendungen wahrgenommen habe, wird mir klar, dass mich manche Dinge mehr fesselten als andere. Es gab da mal eine Serie auf Channel Four, eine Mini-Serie, die hieß … mir fällt der Name nicht mehr ein, aber es ging um schwarze lesbische und queere Frauen aus Großbritannien, die nach Atlanta gingen. Sie hieß – ich komme gerade nicht auf den Namen der Serie, wenn er mir wieder einfällt, schreibe ich ihn dir. Aber ich weiß noch, dass ich sie nachts um 11, wenn alle anderen schon schliefen, auf meinem alten Fernseher sah, sie kam immer zu dieser Zeit, und ich sah mir jede einzelne Folge an. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich tatsächlich queere Schwarze sah und einen Einblick in diese Welt hatte, aber das war auch die einzige Gelegenheit, danach habe ich so etwas nie mehr gesehen, bis ich selbst Teil der Community wurde und es persönlich erlebte. Also damals gab es niemanden, heute gibt es viel mehr Vorbilder. Noch immer nicht genug, aber ich denke, dass wir dank der Social Media Vorbilder ausfindig machen und die Community selbst repräsentieren können. Ich finde, vorher lag die Entscheidung, wer gesehen und wer gezeigt wird, viel zu oft in der Hand weißer Hetero-Männer, die nicht begreifen, sich nicht darum kümmern oder nicht zeigen wollen, wie kompliziert es ist, queer und schwarz zu sein, und warum es so wichtig ist, das im Fernsehen zu zeigen. Also ja, ich finde, dass es zu wenig gezeigt wird … und dann war da noch Artikel 28, damit wurde per Gesetz verboten, dass in Schulen über LGBTQ+ oder ähnliche Themen aufgeklärt wird. Als ich zur Schule ging, galt dieses Gesetz noch, und ich wusste nicht einmal, dass es dieses gab, bis es mal in einem Podiumsgespräch von jemandem erwähnt wurde. Die Schulbildung, die ich bekam, wurde dadurch zweifellos stark beeinflusst, oder vielmehr die fehlende Aufklärung darüber, queer zu sein, und was es bedeutet, queer und schwarz zu sein und so, ich wusste nicht einmal, dass das möglich ist. Auch meine Freunde wussten es nicht, und jetzt gehören sechs meiner damals engsten Freundinnen und Freunde zur LGBTQ+-Community. Also die Community wurde damals nirgendwo repräsentiert, und ich kann keine queeren Vorbilder aus meiner Jugend nennen, weil es einfach keine gab.“

Sinéad Burke: „Ich finde es sehr interessant, was du gerade über Vorbilder gesagt hast – mittlerweile gibt es mehr Vorbilder, nicht genug, aber mehr, aber dass es jetzt tatsächlich Möglichkeiten gibt, wie Leute selbst zu Vorbildern werden können. Und ich habe mich gefragt – wo du doch mittlerweile genau so ein Vorbild für viele bist –, ob das eine bewusste oder unbewusste Entscheidung war. Ich gehöre auch zu einer Community – eines von 15.000 Kindern, die zur Welt kommen, ist kleinwüchsig – und kann irgendwie nachvollziehen, wie es ist, du zu sein, und dass du nur für dich selbst sprichst, aber von außen betrachtet wirkt es so, als ob deine Identität oder deine Erfahrungen allgemeingültig sind. Und ich habe mich gefragt, wie du mit diesem Zwiespalt klarkommst – dass du einerseits du selbst, Tanya, bist, andererseits aber für eine ganze Community stehst und Vorbild für etwas bist, das so viel größer ist als du selbst.“

Tanya Compas: „Das ist eine gute Frage. Ich glaube, dass der Zwiespalt gar nicht so groß ist, denn ich gebe mich in den Social Media so, wie ich bin, und verstelle mich nicht, das macht es sehr einfach, ich zeige halt Ausschnitte aus meinem Leben … Die Inhalte, die ich kreiere, werden nicht unbedingt überarbeitet, um ein bestimmtes Thema beizubehalten oder so. Ich zeige einfach etwas von mir selbst, aus meinem Leben, meine Mode, wie ich mich persönlich verändert habe und worüber ich mich mit meiner Wahlfamilie, meinen Mitbewohnern rede und so weiter. Ich gebe den Leuten Einblicke in mein Leben, und ich finde das ganz gut so, ich bin einfach ich selbst … und ich hätte am Anfang nie gedacht, dass ich mal dort sein würde, wo ich jetzt bin. Ich meine, ich habe schon vorher mit jungen Leuten gearbeitet, als ich noch hetero war, ich arbeite mit jungen Leuten, seit ich 18 bin, die jungen Leute kommen gerne zu mir, und ich glaube, das liegt daran, dass ich sehr … offen bin, also ich bin offen dafür, ihnen einen Ort zu geben, an dem sie von ihren Erfahrungen erzählen können. Ich glaube, dadurch ermögliche ich es ihnen, ihre verletzliche Seite zu zeigen. Ja, ich zeige meine eigene Verletzlichkeit und helfe ihnen dadurch, selbst verletzlich zu sein. Das heißt, ich zeige ihnen einen Ort, an dem sie sagen können: ‚Okay, das kann ich erzählen, ohne Angst haben zu müssen‘ oder: ‚Hier ist es sicher, hier kann ich die Dinge erkunden‘, und ich denke, genau das erreiche ich mit meiner Präsenz in den Social Media. Ich komme in den Social Media sehr optimistisch rüber, ich bin halt ein positiver Mensch. Diese Mischung aus meinem Social-Media-Auftreten und meiner Arbeit mit queeren jungen Leuten vor Ort, bei der sie dieselbe Tanya erleben, gibt ihnen ein gutes Gefühl. Außerdem kann ich ihnen durch meine Erfahrungen – meine eigenen Erlebnisse, aber auch meine beruflichen Erfahrungen im gemeinnützigen Bereich – dabei helfen, ihr häusliches Umfeld, in dem sie auf Unverständnis stoßen, hinter sich zu lassen und auszudrücken, was sie gerade durchmachen. Manchmal reicht es schon, wenn ich ihnen einfach zuhöre, weil ich verstehe, wie es ist, queer und schwarz zu sein, oder wie schwierig es ist, mit der Familie oder in der Schule klarzukommen und so weiter. Also ich persönlich habe keine Probleme damit, weil es einfach … zu mir gehört. Ich bin einfach ich selbst, und ich habe eigentlich noch nie versucht, mich anzupassen und die perfekte LGBT-Influencerin zu werden, denn das bin ich nicht und werde es auch nie sein. Ich habe großes Glück, es gibt so viele Leute in unserer Community, vor allem in London, und wir kennen uns, wir sind füreinander da, und wir sind ehrlich zueinander. Ich habe sehr gute Freunde, die für mich wie Familie sind und die mich auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Sie sagen: ‚Tanya, das passt nicht zu dir‘ oder: ‚Was machst du da?‘, sie stellen mich zur Rede. Und ich glaube, das ist wirklich extrem wichtig, dass ich solche Menschen um mich herum habe, die ehrlich zu mir sind, damit ich authentisch und ich selbst bleibe und nicht versuche, abzuschweifen und in dieses Stereotyp zu passen oder das Vorbild zu werden, das sich die Leute oder Marken oder Unternehmen wünschen; ich glaube, sie wollen meistens einen perfekten queeren Influencer oder den perfekten Menschen, aber eigentlich nur, um etwas zu verkaufen. Aber ich denke, dass ich immer –“

Sinéad Burke: „Stell das System infrage, aber bring uns nicht aus dem Konzept.“

Tanya Compas: „Ja, genau das. Es infrage stellen, aber auf nette Art und Weise – oder es anfechten, aber nicht so wütend auftreten oder so. Oder das System infrage stellen, aber nur über Queer-Aspekte reden, nicht über Schwarze, also darüber, schwarz und queer zu sein. Und ich habe den Eindruck, dass der zusätzliche Aspekt der Hautfarbe die Sache für manche Leute zu politisch macht, aber weißt du, ich kann diese beiden Identitäten nicht trennen, sie existieren gleichzeitig. Ich kann nicht mal das eine wählen und mal das andere, den einen Tag nur schwarz sein, den anderen Tag nur queer. Ich bin immer beides. Ich denke, dass vor allem jetzt, wo die Black-Lives-Matter-Bewegung wieder auflebt und so viel passiert, hoffentlich ein Umdenken einsetzt bei den Marken und Unternehmen, die mit Queeren, mit Leuten aus der Community, arbeiten, dass sie endlich verstehen, dass sie viel mehr erreichen können, wenn sie es den Leuten ermöglichen, Pride wieder politisch anzugehen. Ich glaube, sie haben versucht, Pride nicht mehr politisch zu behandeln, aber man muss den Leuten erlauben, politisch zu sein, wütend und verärgert zu sein, aber gleichzeitig auch sich zu freuen, zufrieden und glücklich zu sein. Denn wir sind wütend und verärgert, aber wir wollen uns auch freuen und glücklich sein. Und ich glaube, dass meine Social-Media-Tätigkeiten und meine Arbeit eine Kombination daraus sind, denn letzten Endes wäre meine Arbeit gar nicht nötig, wenn queere junge Schwarze oder queere Leute im Allgemeinen einfach nur sie selbst und frei sein könnten. Ich hoffe, dass irgendwann der Tag kommt, an dem meine Arbeit überflüssig ist, das ist das Ziel. Aber leider ist das nicht so, darum spüre ich noch immer all den Ärger und die Wut in mir, die nötig sind, um Systeme zu verändern. Aber auch ich will glücklich sein und Freude empfinden, und ich glaube, in den Social Media habe ich die Möglichkeit, all das auszudrücken. Ich finde es gut, dass ich mich nicht an eine bestimmte Lebensweise gebunden fühle, um anderen Leuten ein ungutes Gefühl zu vermitteln. Schließlich entwickeln wir uns nicht weiter, wenn wir uns wohlfühlen, sondern wenn es uns wirklich nicht nicht gut geht und wir unangenehme Gespräche führen müssen. Und genau das erreiche ich hoffentlich in den Social Media.“

Sinéad Burke: „Also ich finde, es gelingt dir durchaus, und ich glaube, es geht darum, dass allen klar wird, dass Fortschritt nicht einfach ist. Ob es dabei nun um Pride geht, der mit den Stonewall-Unruhen begann, oder all die furchtbaren Vorfälle in den letzten Wochen mit schwarzen Männern und schwarzen Transfrauen im Zusammenhang mit dem Versuch, eine Revolution herbeizuführen und eine Welt zu erschaffen, in der sich alle sicher und wohl fühlen und in der Öffentlichkeit und im privaten Bereich einfach sie selbst sein können, mehr wollen wir gar nicht. Wir wollen nur, dass das Recht jedes Einzelnen, sich selbst zu identifizieren und sein wahres Ich ausleben zu können, geachtet wird. Ich würde dich gerne fragen, also, es wird ja gerade sehr viel darüber geredet, was man als Einzelperson tun kann. Vielleicht schauen gerade auch Teenager zu, die schon seit ihrer Kindheit zur Modewelt gehören oder etwas mit Design oder Kunst machen wollen und die sich immer ausgeschlossen fühlen, oder aber wichtige Leute aus der Branche, die man nicht gerade als ‚anders‘ bezeichnen würde, die aber ihre Macht nutzen wollen, um etwas Gutes zu tun. Und dann gibt es da noch die Leute, die sich gar nicht für Mode interessieren, und ich würde dich gerne fragen – ohne dir etwas aufhalsen zu wollen – wie sie das deiner Meinung nach machen sollten; ich glaube, wir alle sollten etwas tun. Ich glaube, wir sollten uns nicht vornehmlich auf die schwarzen Stimmen verlassen, um über den systemischen Rassismus aufgeklärt zu werden, den es überall gibt, auf dem ein Großteil unserer Geografie basiert. Also was sollten Leute, die sich bei diesem Gespräch unwohl fühlen, als Erstes tun?“

Tanya Compas: „Ich finde, als Erstes sollte man sich informieren. Wir leben in einer Zeit, in der es wirklich sehr einfach ist, sich selbst zu informieren, mit konkreten Fakten. Einfach in dem Sinne, dass die Informationen leicht zugänglich sind, man kann alles googeln … Ich hatte ja vorhin erzählt, dass ich das erste Mal durch Instagram, durch Stichwortsuchen und Hashtags von der queeren schwarzen Community im UK und in London erfuhr. Oder ich fand Leute, oder eine Gruppe, und sah mir an, wem diese Leute folgten, und folgte allen, denen sie folgten, weil ich dachte, wenn der- oder diejenige ihnen folgt, sollte ich das auch. Also ich finde, wenn man helfen will, sollte man sich als Erstes informieren, das gilt auch für alle aus der Queer-Community. Aufklärung betrifft nicht nur die, die uns helfen wollen, auch wir müssen uns ständig auf dem Laufenden halten. Das habe ich letztens selbst gemacht, ich habe mir einen Haufen Bücher gekauft, um mehr über Transidentitäten und transformative Gerechtigkeit zu erfahren und wie das für unsere Communitys aussehen könnte. Ich informiere mich über die Geschichte der queeren Schwarzen, denn ich glaube, dass ich es denjenigen, die vor mir da waren, zu verdanken habe, dass ich heute so leben kann, wie ich es tue. Ich will nicht, dass die Leute denken, diese Bewegung beginnt mit mir oder meiner Generation, denn das tut sie nicht, es gab sie schon vorher. Und ich finde, dabei wurden so viele Menschen vergessen und Stimmen überhört, darum finde ich es für mich selbst wichtig, mich immer weiter zu informieren, damit ich all diesen Menschen, mir selbst, der Community und anderen gerecht werde. Ich glaube, für Verbündete – vor allem weiße Hetero-Mitstreiter – ist es auch unumgänglich, dass sie sich ihrer Privilegien bewusst sind, und wir alle haben Privilegien. Jeder Einzelne aus jeder Community hat irgendwelche Privilegien gegenüber einem anderen aus der gleichen oder einer anderen Community. Wenn man darüber nachdenkt … Wir wissen, welche Privilegien wir haben, die darauf basieren, wer und wie wir sind, und welche Mittel uns tatsächlich wegen dieser Privilegien zur Verfügung stehen, und dann schauen wir, wie wir diese Privilegien einsetzen können, um den besagten Communitys zu helfen. Das Crowdfunding für mein Projekt ‚Exist Loudly’ war einfach phänomenal und hat gezeigt, wie viele Mitstreiter und Unterstützer aus der Community wir tatsächlich haben. Eigentlich wollte ich nur 10.000 Pfund sammeln, und am Ende waren es über 100.000 Pfund. Und mir wurde bewusst, während das Geld … Also, ich erhielt fast 50.000 Pfund innerhalb von 24 Stunden, und mir wurde bewusst, dass ich in dieser Hinsicht privilegiert war aufgrund meiner Social-Media-Plattform, und weil ich auf Community-Plattformen aktiv bin, wusste ich, dass mehr Leute sehen würden, was ich tue. Es ist einfacher, wenn die Leute denken: ‚Oh, ich kenne Tanya‘ oder: ‚Davon habe ich schon mal gehört‘, und sie wollen etwas beitragen und mir helfen, weil ich diese Plattform habe. Aber es wäre falsch gewesen, immer weiter Spenden zu sammeln … Ich hätte 100.000 Pfund für mich selbst behalten können, aber als wir die 50.000-Pfund-Marke knackten, wusste ich, dass das ausreicht und dass es gegenüber den anderen aus der Community nicht fair wäre, wenn ich alles für mich behalte, um meine eigene Plattform voranzubringen oder das Geld einfach zu horten, und ich wusste, ich brauche das nicht. Darum beschloss ich, dieses Geld mit fünf weiteren wunderbaren Gruppen zu teilen, die auch mit queeren, schwarzen und POC-Jugendlichen im ganzen UK arbeiten, weil sie nicht so eine große Reichweite haben wie ich. Und für sie ist das echt viel … Eine der Gruppen hat das ganze letzte Jahr über versucht, 10.000 Pfund zu sammeln, hat aber nur 6.000 aufgetrieben. Ich hatte diese Summe, wie gesagt, in nicht einmal 24 Stunden zusammen, und das zeigt die Unterschiede … Also auch wenn man für eine Spendenkampagne spendet, ist das eine großartige Unterstützung. Manchmal gibt es Spendenaktionen für Transmenschen oder Jugendliche, die eine Geschlechtsangleichung oder eine komplizierte OP wollen, zum Beispiel eine Gesichts-OP, damit es weiblich wird. All diese Dinge kosten viel Geld und sind schwer zu kriegen, vor allem für Transmenschen und queere junge Menschen, die häufiger an psychischen Problemen leiden oder die oft obdachlos sind. Oft haben sie auch Probleme am Arbeitsplatz, weil dort Queerphobie, Transphobie oder Homophobie herrschen, oder sie werden von ihrer Familie abgelehnt und fühlen sich zuhause nicht sicher. Es ist also wirklich wichtig, sich nach den verschiedenen Möglichkeiten zu erkunden, wie man seine Ressourcen, sein Geld beitragen kann. Ich bekam Angebote von Leuten, die Exist Loudly beim Grafikdesign helfen wollten oder Räumlichkeiten für Veranstaltungen mit den jungen Leuten bereitstellen … Sowas halt. Es muss nicht immer Geld sein – viele Leute haben einfach nicht genug Geld, um etwas spenden zu können, aber vielleicht kennst du ja jemanden, der zum Beispiel einen Raum zur Verfügung stellen kann oder der Geschenke zu verteilen hat, Werbegeschenke, oder kostenlos Mahlzeiten anbietet; es gibt so viele Möglichkeiten …“

Sinéad Burke: „Wie du schon gesagt hast …“

Tanya Compas: „Sorry, Sinéad, was wolltest du sagen?“

Sinéad Burke: „Ich denke, es kommt nicht nur auf Privilegien an, sondern auch auf Ressourcen. Es gibt so viele Möglichkeiten, a) sich zu informieren und b) die Initiativen und Projekte, die bereits laufen, vor allem für Queere, Schwarze und Minderheiten, zu unterstützen. Es geht hier nicht darum, dass sich Weiße in den Mittelpunkt drängeln, sondern sie sollen vielmehr in den Hintergrund treten, damit du alles Nötige tun und die Voraussetzungen erfüllen kannst. Und ich glaube, wir müssen uns einfach im Klaren darüber sein und uns selbst jede Menge Fragen stellen, um sicherzugehen, dass wir etwas Sinnvolles tun, etwas beitragen, unterstützen und Orientierung bieten und informieren – und zwar auf eine Weise, die nicht uns zugutekommt. Tanya, ich kann dir gar nicht genug für dieses Gespräch danken. Ich habe mich schon den ganzen Tag lang darauf gefreut, und es war wie eine Offenbarung. Ich bin schon gespannt, was die Leute, die zugesehen und zugehört haben, darüber denken. Und ich bin gespannt, welche Projekte sie sich nach unserem Gespräch als Nächstes ausdenken werden. Tanya, ich kann dir nur viel Glück wünschen – aber ich glaube, du brauchst eigentlich kein Glück, eher Ressourcen und Unterstützung, damit du deine Arbeit fortführen kannst. Und wie du die Welt mitgestaltest und veränderst und junge Leute dazu animierst, Lebensfreude zu empfinden und gleichzeitig das System zu hinterfragen, ist sehr mutig und wichtig und inspirierend und vor allem dringend nötig. Also, ich danke dir vielmals und hoffe, dass wir in Zukunft noch viele weitere interessante Gespräche führen werden.“

Tanya Compas: „Ja, das hoffe ich auch. Ich danke dir. Ich habe unser Gespräch wirklich sehr genossen. Es war toll.“

Bildschirmtext:
Editor-at-large @PaoloLavezzari
Art Direction @LucaStoppiniStudio
Produktionsstudio Effe Milano
Produktionsleiter Marco Fattorusso

Grafik / Bildschirmtext:
@tanyacompas
@iconmagazine.it
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