Abschrift

Generation Equality Kapselkollektion Abschrift

I: Gucci Podcast Host
SB: Sinéad Burke
AL: Andraéa LaVant
MGR: Maryangel García-Ramos

Intro-Musik

I: [00:09] Willkommen zurück zum Gucci Podcast. Anlässlich des Weltfrauentags veröffentlicht Gucci eine besondere Kapselkollektion unter dem Banner von CHIME FOR CHANGE, einer langjährigen globalen Kampagne von Gucci mit dem Ziel, Menschen, die sich für die Geschlechtergleichstellung einsetzen, zusammenzubringen, zu vereinen und zu stärken.

I: [00:27] Um einen bedeutungsvollen Dialog zu fördern, in dessen Mittelpunkt feministische und Jugendbewegungen stehen, spricht Sinéad Burke, Mitglied im Beirat von CHIME FOR CHANGE sowie Gründerin von „Tilting the Lens“ und Mitglied des Global Equity Board von Gucci, in einer neuen Folge des Gucci Podcasts mit den Behindertenaktivistinnen Maryangel García-Ramos und Andraéa LaVant.

SB: [00:52] Gerade an Tagen wie dem heutigen Weltfrauentag werden häufig Fragen wie „Wer sitzt mit am Tisch?“, Gespräche über die Geschlechterparität auf Vorstandsebene oder in einer Organisation bzw. eine globale Betrachtung der Gleichstellung, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Rechte von Frauen besonders hervorgehoben.

SB: [01:21] Ich heiße Sinéad Burke und habe das große Privileg, Teil des Global Equity Board von Gucci zu sein. Meine Aufgabe bei Gucci ist es, das globale strategische Ziel zur Schaffung von Chancen für behinderte Menschen bei Gucci mit zu leiten.

SB: [01:38] Die Berücksichtigung von behinderten Menschen in einem Unternehmen wie Gucci ist auch ein Grund, weshalb ich so stolz bin, dass ich heute hier im Gucci Podcast ein so wichtiges Gespräch moderieren darf. Denn wenn wir an den Weltfrauentag denken, haben wir oft eine ganz bestimmte Vorstellung von den Frauen, die unserer Meinung nach thematisiert werden sollten und könnten.

SB: [02:02] Häufig sind das keine behinderten Frauen. Diese Diskussion wird normalerweise auch nicht unter dem Aspekt der Intersektionalität geführt, selbst wenn es um Behinderung geht. Aber heute, im Gucci Podcast, werden wir genau das tun.

SB: [02:17] Ich bin so dankbar, dass ihr beide, Andraéa LaVant und Maryangel García-Ramos, mit mir über eure Erfahrungen und euer Know-how, aber auch über eure Vorstellungen und Visionen für eine gerechtere Welt sprechen werdet. Und welchen besseren Zeitpunkt könnte es dafür geben als den Weltfrauentag?

SB: [02:35] Und dazu noch im Gucci Podcast. Denn die Sichtweisen von Frauen mit Behinderung waren einfach viel zu lange nicht sichtbar. Aus Gründen der Zugänglichkeit möchte ich daher unser Gespräch mit einer anschaulichen Beschreibung von uns beginnen. Und da ich gerade rede, mache ich den Anfang.

SB: [02:54] Ich bin eine weiße Cis-Frau, die die Pronomen „sie“ und „ihr“ verwendet. Ich bin erkennbar körperlich behindert. Ich bin kleinwüchsig. Ich habe braunes Haar, das ich normalerweise etwa schulterlang trage, aber im Moment ist es etwas länger.

SB: [03:10] Heute trage ich einen schwarzen Pullover, auf dem in Fettschrift „Stand in awe of the [menhor]“ (Stehe in Ehrfurcht vor der [Menhor]) geschrieben steht. [Menhor] ist das irische Wort für Frau. Ich dachte, es ist ein ziemlich passendes Shirt für heute und für dieses Gespräch, obwohl das mit der Ehrfurcht nicht immer so sein muss. Wir stehen ja nicht immer.

SB: [03:30] Ich sitze jedenfalls gerade zu Hause in meinem Büro mit einer grünen Blumentapete im Hintergrund. Andraéa, dein Name kommt im Alphabet zuerst dran, weshalb ich dich bitten würde, uns zuerst eine anschauliche Beschreibung von dir zu geben.

AL: [03:44] Vielen Dank, Sinéad. Ich bin Andraéa LaVant. Ich verwende „sie/ihr“ als Pronomen. Ich bezeichne mich als schwarze, körperlich behinderte Frau. Ich benutze den Rollstuhl. Heute trage ich lange, einzelne Braids im Ombré-Stil, eine olivgrüne Cateye-Brille, also eine quadratische Brille in Katzenaugenform, und ein karamellfarbenes Shirt. Ich bin gerade in meinem Schlafzimmer und hinter mir sind verschiedene Regale und Dekostücke. Ich finde es klasse, dabei sein zu dürfen, danke schön.

SB: [04:24] Vielen Dank, großartig. Maryangel, jetzt bist du an der Reihe. Könntest du dich kurz anschaulich beschreiben?

MGR: [04:29] Ich freue mich total, hier zu sein. Ich bin eine mexikanische Cis-Frau. Meine Pronomen sind „sie/ihr“. Ich habe lange schwarz-braune Haare, bin kurvig und trage ein weißes Shirt unter einer schwarz-weißen Weste mit drei goldenen Knöpfen. Ich bin gerade in einem weißen Raum in der Uni, wo ich arbeite, und ja, ich habe auch eine körperliche Behinderung und sitze auf einem Stuhl, der mir ein bisschen Bewegungsfreiheit bietet. Genau.

SB: [05:09] Ich danke euch für diese anschauliche Beschreibung. Ich hoffe, dass das Publikum, das diesen Podcast hört oder das Transkript liest, gerade überlegt, wie es sich selbst anschaulich beschreiben würde, wenn wir es darum bitten würden.

SB: [05:22] Als wir mit der Rahmensetzung für dieses Gespräch begannen und dabei insbesondere über Guccis Initiativen für CHIME FOR CHANGE, Generationengerechtigkeit und die Beziehung zwischen Frauen und Gleichberechtigung, Politik und Kultur nachdachten, sprachen wir über die Notwendigkeit, näher auf das Thema soziale Gerechtigkeit einzugehen.

SB: [05:41] Aber wenn wir über soziale Gerechtigkeit nachdenken, haben wir wohl alle eine andere Vorstellung davon, was das bedeuten könnte. Andraéa, du hast einmal etwas gesagt, was mir eine ganz neue Sichtweise auf mein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit gegeben hat, vor allem aus der Sicht eines Menschen mit Behinderung.

SB: [06:00] Du sagtest, und ich entschuldige mich schonmal dafür, dass ich dich jetzt zitiere und damit vielleicht in Verlegenheit bringe, aber du sagtest: „Wir wollen das Verständnis für Behinderung als ein Thema der sozialen Gerechtigkeit fördern und Beziehungen über Grenzen hinweg aufbauen“.

SB: [06:15] Wenn ich über diesen Satz nachdenke, wird mir klar, dass wir ein Umfeld schaffen müssen, in dem es uns allen möglich ist, unsere Erfahrungen mit Ausgrenzung zu teilen. Das würde über behinderte Menschen hinausgehen, denn wir alle können uns irgendwann in unserem Leben ausgeschlossen fühlen. Aber es gibt uns auch die Erlaubnis, Communitys, Arbeitsstellen und Systeme zu stärken, die einen transformativen Wandel vorantreiben.

SB: [06:36] Ich würde gerne wissen, was ihr beide unter Behinderung als Frage der sozialen Gerechtigkeit versteht? Denn bevor wir weitermachen, brauchen wir ein gemeinsames Verständnis von dem, was wir heute diskutieren wollen. Andraéa, da das Zitat von dir stammt, würde ich dich bitten, den Anfang zu machen.

AL: [06:55] Das ist eine gute Frage, danke, dass du sie stellst und diesen schönen Einstieg machst, Sinéad. Interessanterweise habe ich dieses Zitat, insbesondere die Formulierung „Beziehungen über Grenzen hinweg aufzubauen“, von meiner lieben Freundin und mittlerweile Vorgängerin, der Aktivistin für Behindertengerechtigkeit, Stacey Park Milbern, gelernt. Sie war für mich ein gutes Beispiel dafür, wie sich das Thema Behinderung in größere Gespräche über Ungerechtigkeit einbringen lässt und somit letztendlich Veränderungen bewirkt werden können.

AL: [07:30] Wie du schon gesagt hast, ist der erste Schritt beim Anstoßen von Veränderungen die Anerkennung der Probleme und das Aufdecken von Wahrheiten, insbesondere in solchen Bereichen, in denen wir als behinderte Menschen gewöhnlich ausgeschlossen werden. Ich glaube, viele denken beim Konzept „über Grenzen hinweg“ oder „soziale Gerechtigkeit“ an Communitys, die sich stark von unserer eigenen – in der wir ja ganz offensichtlich diskriminiert werden – unterscheiden.

AL: [08:02] Aber im Laufe der Jahre habe ich verstanden, dass Beziehungen auch dort aufgebaut werden müssen, wo die Grenzen weniger offensichtlich, also vielleicht etwas schmaler oder schwieriger zu verstehen sind. Viele der Gespräche über soziale Gerechtigkeit, die wir heute führen, sind ein gutes Beispiel dafür. Wenn wir über Formen der Unterdrückung wie Rassismus, Sexismus oder Homophobie nachdenken, werden Behinderungen in diesen Gesprächen nämlich häufig nicht berücksichtigt und genau hier liegen die großen Fehler.

AL: [08:35] Behinderung ist in jeder Community vertreten und deshalb gibt es in diesen Gesprächen auch den sogenannten Ableismus, also die Diskriminierung und die Unterdrückung von Menschen mit Behinderung. Das ist in dieser und in anderen Communitys neben anderen Problemen ebenfalls vertreten.

AL: [08:56] Wenn wir also über Dinge wie das Gesundheitswesen, die Wirtschaft oder die Auswirkungen der Pandemie und so weiter sprechen, muss sichergestellt werden, dass Behinderung auch beim Namen genannt wird. Wir umgehen den Begriff häufig, aber wenn wir von Vorerkrankungen oder Ähnlichem sprechen, sind damit doch oft Behinderungen gemeint, oder? Es gibt so viele Bereiche, wo der Begriff nicht genannt wird, obwohl er es sollte.

AL: [09:27] Deshalb wollen wir das Wort aussprechen und diese innere Sektionalität anerkennen, um letztendlich wirklich darauf aufbauen zu können.

SB: [09:38] Andraéa, du hast das Wort Vorerkrankungen angesprochen. Ich glaube, im Laufe der Pandemie haben wir uns nur allzu sehr daran gewöhnt, Personen als gefährdet zu bezeichnen, um uns von der eigentlichen Beschreibung der Personen zu lösen. Ich lebe in Irland, das Vereinigte Königreich ist nicht weit von mir entfernt, und wenn wir uns die Daten zur Pandemie ansehen, waren dort sechs von zehn COVID-Todesfällen behinderte Menschen.

SB: [10:06] Aber selbst jetzt, wo wir zumindest in den Industrieländern hoffentlich in der letzten Phase der Pandemie angelangt sind, wird die Existenz sowie die Inklusion von behinderten Menschen bei der Auseinandersetzung mit der nächsten Phase wieder ausradiert.

SB: [10:23] Maryangel, Andraéa hat das Thema Behinderung als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit mit Blick auf ihre eigene Erfahrung, ihren Wohnort und ihre Kenntnisse sehr interessant beschrieben. Ich frage mich, ob du aus deiner Sicht und durch deine Arbeit in Mexiko eine andere Definition von Behinderung im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit hast. Wie siehst du das?

MGR: [10:43] Ich finde, was Andraéa gesagt hat, trifft den Nagel auf den Kopf. Wenn wir über Behindertengerechtigkeit sprechen, geht es um die Gerechtigkeit innerhalb eines Systems, und das System, in dem wir leben, ist im Prinzip komplett für Menschen konzipiert, bei denen davon ausgegangen wird, dass sie alle Fähigkeiten besitzen. Also alles, was es gibt, von Supermärkten bis hin zur öffentlichen Verwaltung, ist offensichtlich so gestaltet, dass es für die Mehrheit funktioniert.

MGR: [11:16] Wie können wir uns also für Gerechtigkeit einsetzen, wenn alles um uns herum nicht für uns gemacht ist? Ein*e Freund*in hat mir kürzlich gesagt, dass Menschen mit Behinderungen ja eigentlich weltweit die ursprünglichen Hacker*innen seien. Wir würden das System die ganze Zeit knacken, was eine großartige Fähigkeit und so etwas wie ein Wettbewerbsvorteil für uns sei.

MGR: [11:43] Es gibt Unternehmen, die nach solchen Fähigkeiten suchen, und ich finde es toll, dass wir die ersten Hacker*innen sind, aber warum müssen wir das sein? Warum müssen wir die ganze Zeit das System hacken? Klar ist es toll, dass wir lernen zu überleben. Das tun wir schließlich jeden Tag. Wir überleben und versuchen, in einer Gesellschaft zurechtzukommen, die nicht für uns gemacht ist, die uns mit all diesen Dingen ständig sagt, dass sie nicht für mich gemacht ist.

MGR: [12:08] In dem routinierten System, in dem wir leben, werden wir nicht berücksichtigt. In jeder Situation, bei allem, was wir tun, bei allem, was wir gestalten, gibt es den gender- und auch den behindertenspezifischen Gesichtspunkt. Wir sind Millionen von Menschen und ich finde es sehr wichtig, dass wir hier noch einmal genauer hinschauen, denn wenn wir nicht darüber sprechen, dann … Es geht nicht um den Kampf von uns gegen die anderen. Wir sind Teil des Systems. Wir müssen uns also damit auseinandersetzen, um es letztendlich zu verändern, zu zerbrechen, zu zerschlagen oder was auch immer.

SB: [12:40] Ein neues aufzubauen. Maryangel, was du gesagt hast, ist wirklich interessant, denn wenn wir Behinderung als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit betrachten, müssen wir ja auch überlegen, ob das überhaupt möglich ist. Denn Gerechtigkeit scheint von unserer potentiellen Wirklichkeit weit entfernt zu sein, weil das System gegen uns ausgelegt ist.

SB: [12:59] Mir gefällt auch die Idee, dass wir von Natur aus innovativ sind, weil wir in einer Welt leben, die nicht für uns geschaffen wurde. Doch obwohl es etwas ist, das gefeiert werden kann, und vielleicht auch dem Geschäftsmodell von Behinderung dienen könnte, ist es in Wirklichkeit ein Beweis für das Trauma, das wir jeden Tag erleben. Auch wenn das, was für uns eine Bürde, eine Last ist, uns innovativer oder kreativer werden lässt, sollten wir uns die Frage stellen, ob wir nicht endlich einfach nur sein dürfen, wer wir sind?

SB: [13:30] Was ich an eurem Blickwinkel, den ihr beide heute in das Gespräch eingebracht habt, interessant finde, sind die Unterschiede, die innerhalb der verschiedenen Grenzen bestehen, sei es geografisch oder im Hinblick auf die Identität. Andraéa, du und ich hatten das große Vergnügen, gemeinsam am Dokumentarfilm Crip Camp, der für einen Oscar nominiert wurde, mitzuwirken. Und du warst auch die erste erkennbar behinderte, schwarze Frau auf dem roten Teppich der Oscars.

SB: [14:00] Ich würde nun gerne den Blick auf den Film Crip Camp und speziell auf die Impact Campaign richten, aber auch auf die verschiedenen intersektionalen Narrative, die du aufgreifen und thematisieren konntest. Was waren die wichtigsten Erkenntnisse aus deiner Arbeit an der Kampagne, was den Aufbau eines neuen Systems bzw. die soziale Gerechtigkeit für behinderte Menschen innerhalb eines auf Nichtbehinderte ausgelegten Systems betrifft?

AL: [14:27] Ich denke, eine wichtige Erkenntnis dieser Erfahrungen ist das, was auch der Film Crip Camp de facto verkörpert und darstellt. Es bestätigt unsere Sichtweise und Erfahrungen und was wir von behinderten Menschen auf der ganzen Welt gehört haben: Die Wichtigkeit und die Notwendigkeit für behinderte Menschen, eine Community aufzubauen und zu haben.

AL: [14:55] Häufig leben wir aus unterschiedlichen Gründen und aufgrund unserer Erfahrungen voneinander abgeschirmt, doch die Geschichte zeigt, dass dauerhafte Veränderungen entstehen, wenn wir zusammenkommen, und genau das verdeutlicht Crip Camp. Der Film zeigt die Power der Gemeinschaft. Selbst heute noch, viele Jahre später, sind die Vorteile dieses Zusammentreffens in dem Camp von damals offensichtlich. In der Impact Campaign war das de facto unser Ziel.

AL: [15:27] Viele Menschen konnten ganz einfach die Vorteile sehen, die unser Zusammenkommen bewirkt hat. Auch wenn es so aussah, als gäbe es da noch viele andere Dinge, ging es im Grunde darum, zusammenzukommen, unsere Power zu erkennen und letztendlich Veränderungen zu erzielen.

AL: [15:49] Eine weitere wichtige Erkenntnis, die ich mitnehme, ist die klischeehafte, aber durchaus wahre Aussage, einfach dabei bzw. vertreten zu sein. Je mehr wir uns als behinderte Menschen in allen Bereichen des Mainstreams widergespiegelt sehen, sei es im Entertainment, in der Politik und der Welt der Mode oder der Technologie, desto mehr werden wir diese Power verstehen und auch ausüben können.

AL: [16:13] Das sind also die wichtigsten Dinge. Es gibt so viele Erkenntnisse, dass ich immer versuche, sie auf uns als Gemeinschaft zu beziehen, auf das, was wir brauchen, und auf den Stellenwert für uns. Wir brauchen einander einfach, wir brauchen Plattformen wie diese, wo wir selbst die Führung des Gesprächs übernehmen und dann zusammenkommen, durchatmen und die Arbeit angehen können.

SB: [16:40] Allein die Idee, sich zu versammeln, ist für behinderte Menschen und insbesondere für behinderte Frauen beinahe schon wie ein radikaler Akt, weil wir bisher keine Gelegenheit hatten, das zu erleben. Und in vielerlei Hinsicht hat die Pandemie unserer Community sehr geschadet. Gleichzeitig hat sie aber auch digitale Möglichkeiten für uns geschaffen. Wir können uns digital vernetzen, versammeln, Pläne schmieden und, wie John Lewis einst sagte, „guten Ärger“ machen, um zu sehen, dass eine Herausforderung auch eine Chance sein kann.

SB: [17:13] Andraéa, du hast über Wege und Möglichkeiten für Veränderungen gesprochen und wir beide leiten ja Beratungsunternehmen, die gewinnorientiert arbeiten. Maryangel, ich bin mir bewusst, dass Veränderung ganz unterschiedlich vonstattengehen kann. Du hast die Non-Profit-Organisation „Mexicanas con Discapacidad“ (Mexikanerinnen mit Behinderungen) gegründet und leistest phänomenale Arbeit für den gleichberechtigten Schutz von behinderten Frauen in Mexiko.

SB: [17:37] Mich interessiert, was du dir unter Erfolg vorgestellt hast, bevor du diese Organisation gegründet hast, und was dich dazu gebracht hat, auf diese Weise Veränderungen zu bewirken.

MGR: [17:49] Wie ihr beide bin auch ich Beraterin und arbeite gleichzeitig als Leiterin der Abteilung „Vielfalt und Inklusion“ an einer der größten privaten Universitäten in Mexiko und Lateinamerika.

MGR: [18:03] Als Frau mit Behinderung sage ich immer, dass ich in Mexiko keine durchschnittliche Frau mit Behinderung bin, weil ich die Möglichkeit hatte, zu studieren, einen Masterabschluss zu machen, ein Auto zu fahren und fließendes Wasser, Gas und Licht zu haben. Ich bin nicht die durchschnittliche Person mit einer Behinderung in Mexiko.

MGR: [18:22] Deshalb war es für mich sehr wichtig, meine Erfahrungen mit anderen Frauen auszutauschen. Als wir Mexicanas con Discapacidad gründeten, war der wichtigste Punkt für mich, dass wir eine Gemeinschaft aufbauen mussten. Wenn wir über Behinderung sprachen, hatte ich das Gefühl, dass wir es nie unter Gendergesichtspunkten beleuchtet haben.

MGR: [18:45] Denn es gibt ja nicht nur eine Geschichte über Behinderungen und es gibt auch nicht nur eine Geschichte über Frauen, stimmt’s? Wir haben also nicht über Frauen mit Behinderungen gesprochen, sondern allgemein über behinderte Menschen, wie ein großes Ganzes sozusagen.

MGR: [18:55] Und als wir uns mit den feministischen Bewegungen befassten und über die Gleichstellung der Geschlechter sprachen, redeten wir nicht über Frauen mit Behinderungen. Laut der Gründerin von Women Enabled, Stephanie Ortoleva, sind wir wie vergessene Schwestern. Wir existierten nie und nichts war barrierefrei. Wir sollten unsere Körper funktionstüchtig halten, um bei den Kämpfen und Märschen sichtbar zu sein, aber selbst das war manchmal einfach nicht möglich.

MGR: [19:19] Darum ging es mir also. Ich fragte mich, wie wir eine Gemeinschaft von Frauen mit Behinderung schaffen können, in der wir einfach nur beisammen sind und uns austauschen. Über Dinge wie die Periode und was dabei passiert, für Frauen und behinderte Menschen, die ihre Periode haben, und mit wem wir darüber sprechen können. Wie können wir über die inneren Kämpfe sprechen, die wir vielleicht in unseren Körpern führen, und über die behindertenfeindlichen Gedanken, die wir immer wieder beim Arbeiten und in unseren inneren Dialogen haben, und wie können wir gleichzeitig über Public Policy sprechen, wie können wir das noch vorantreiben?

MGR: [19:55] Für mich war es also ein Weg, wie wir es voranbringen können. Neben meiner Arbeit als Beraterin von Unternehmen und Organisationen beschäftigte ich mich mit der Frage, wie wir Communitys sichtbarer machen können. In der Pandemie war es, wie du schon sagtest, schwierig für uns. In Mexiko hat nicht jede Person Zugang zum Internet und zu diesen Plattformen, aber wir haben jetzt eine größere Plattform geschaffen. Wir schufen Gruppen und Räume, in denen Frauen mit anderen vorher unbekannten Frauen über ihre Probleme sprachen.

MGR: [20:24] Wir haben uns Gedanken gemacht und Workshops über Selbstliebe und die Erkennung von geschlechtsbezogener Gewalt zu Hause geführt. Denn wir wissen, dass Frauen mit Behinderungen in ihrem Umfeld wohl rund zehnmal häufiger von sexueller Gewalt betroffen sind. Also wollten wir sie dazu bringen, dies zu erkennen. Wir begannen also, all diese Inhalte und alles Weitere selbst zu erarbeiten, und das war sehr beeindruckend.

MGR: [20:51] Wir als NGO bieten keine bestimmte Dienstleistung an, sondern schaffen vielmehr Netzwerke und setzen sie politisch in Bewegung. Das ist es also, was wir tun.

MGR: [21:02] Für mich war es die Erfahrung meines Lebens, denn die einzigartigen Blickwinkel von behinderten Menschen unter Berücksichtigung von Gendergesichtspunkten zu verstehen, hat alles verändert. Auf diese Weise konnten wir wirklich verstehen, dass es eine größere Community ist, zu der nicht nur Menschen mit Behinderung zählten, sondern alle um uns herum, einschließlich feministischer Bewegungen.

MGR: [21:27] Was bedeutet es, über eine Kultur der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung zu sprechen, und welche Kultur pflegen wir im Umgang mit Behinderung? Das macht uns sichtbar, es gibt uns Macht und versetzt uns in die Lage, unsere Geschichten noch einmal selbst zu erzählen, was der Film Crip Camp ja im Prinzip schon für uns alle getan hat. Meine Gedanken drehen sich darum, wie wir fortfahren können, wie wir es in den Kommunen schaffen können. Jetzt dürfen wir die Gespräche, die wir bisher nicht führen konnten, endlich führen, weil wir uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen, und das verändert alles.

SB: [22:03] Und wie können sie prosperieren? Maryangel, du hast vorhin gesagt, dass Behinderung kein großes Ganzes sei, da Menschen unterschiedliche Gesichtspunkte hätten und nicht alle behinderten Menschen oder behinderten Frauen derselben Meinung seien. Du hast auch den Stellenwert von Gemeinschaft und Repräsentation angesprochen.

SB: [22:17] Ich werde nie vergessen, wie ich das erste Mal an einem Kongress der Little People of Ireland teilnahm, wo ich andere junge Frauen und Mädchen traf, die wie ich aussahen, und mit ihnen über die Herausforderungen beim Zugang zur Antibabypille sprach. Wir sind kleinwüchsige Frauen, und als Maßstab für den Zugang zur Antibabypille wurde der BMI herangezogen.

SB: Ohne Feminismus, Gemeinschaft und Repräsentation wüsste ich nicht, in welcher Position wir wären, denn es gibt keinen Ort, nicht einmal im Internet, an dem Gespräche wie diese stattfinden können.

SB: [23:03] Du hast davon gesprochen, Systeme zu verändern, und ich denke, dass wir in unserer Beratungsarbeit, aber auch in unserer Community-Arbeit alle sehr fixiert darauf sind, neue Systeme aufzubauen. Aber wenn wir ehrlich zu uns sind, wissen wir auch, dass wir ohne die bereits bestehenden Systeme nicht existieren können, doch wir müssen sie zumindest verändern.

SB: [23:20] Maryangel, du hast über deine Arbeit im rechtlichen Umfeld gesprochen. Welche Fähigkeiten brauchen wir eigentlich, um die Legislative zu unterstützen oder sie zum Handeln zu bewegen?

MGR: [23:33] Das ist eine sehr interessante Frage, denn wir lernen ja nach und nach dazu. Das habe ich zumindest in dieser Hinsicht gelernt. Du musst zunächst einmal deinen Ausgangspunkt und die aktuelle Lage kennen und du musst wissen, welche Daten du hast und welche dir fehlen. In Mexiko haben wir nämlich überhaupt keine Daten.

MGR: [23:51] Du hast vorhin gesagt, dass im Vereinigten Königreich die meisten COVID-Toten Behinderungen hatten, aber hier fehlt uns diese Zahl, wir wissen gar nichts darüber. Und ohne Zahlen sind wir unsichtbar, nicht wahr?

MGR: [24:03] Deshalb komme ich wieder zurück auf die Macht der Gemeinschaft. Wir müssen uns zusammenschließen. Ich bin ja nicht die Einzige, die sich für etwas einsetzt. Wir müssen die Probleme benennen und dann schauen, wer die Verbündeten sind. Es gibt immer Verbündete, und wir müssen herausfinden, wen wir mobilisieren können. Aber nicht nur innerhalb der Behinderten-Community, sondern auch innerhalb anderer Gemeinschaften und anderer, seit langer Zeit diskriminierter Gemeinschaften, die sich für ihre Interessen stark machen und gleichzeitig intersektional sind.

MGR: [24:31] Für mich geht es also um die Vision, es als Gemeinschaft zu tun. Das hat hier funktioniert und es übt auch ein bisschen Druck auf die Community aus.

MGR: [24:41] Zweitens denke ich, dass es auf Nachhaltigkeit ankommt. Wenn wir als Aktivist*innen unterwegs sind und Druck machen, werden wir irgendwann müde, gegen das Machtsystem zu kämpfen, das festlegt, welches Gesetz und welche Veränderung möglich sind und welche nicht.

MGR: [24:56] Damit es nachhaltig wird, halte ich es für sehr wichtig, behinderte Menschen in Führungspositionen weiter zu stärken. Natürlich auch in Entscheidungspositionen, aber wir können ja klein anfangen, und zwar überall, nicht wahr? Wir müssen überall vertreten sein, denn Behinderung gibt es überall. Es gibt nicht nur ein einzelnes behindertenspezifisches Problem. Wie Andraéa schon sagte, wir sind einfach überall. Ja.

SB: [25:24] Am Weltfrauentag ist es meiner Meinung nach wirklich wichtig, uns die Vorbehalte und Annahmen, die wir oft sogar in unseren eigenen Köpfen und Körpern leben lassen, zu vergegenwärtigen. Uns behinderten Frauen wird ständig gesagt, dass uns weniger Chancen eingeräumt werden. Uns behinderten Frauen wird häufig gesagt, dass wir unsere Fähigkeiten artikulieren müssen, weil die Welt sie wesentlich geringer einschätzt.

SB: [25:48] Aber wie du schon sagst, wir können nicht jede Chance ergreifen, weil wir uns sonst völlig verausgaben würden. Die Vorstellung, dass langfristige, nachhaltige Veränderungen nicht von nur einer Person bewirkt werden können, muss dazu führen, dass Platz für weitere Personen geschaffen wird. Und das führt uns wieder zum Stichwort Gemeinschaft und Sichtbarkeit, die in diesem Gespräch unwillkürlich zu den beiden Schwerpunkten werden.

SB: [26:11] Wenn ich über Sichtbarkeit nachdenke, denke ich oft an das Zitat der schwarzen britischen Schauspielerin Michaela Coel. Als sie letztes Jahr ihren Emmy gewann, gab sie dem Publikum einen wichtigen Ratschlag. Sie sagte: „Erzähl die Geschichte, die dir Angst macht, die dich unsicher macht, die dir unangenehm ist. Ich fordere dich heraus. In einer Welt, die uns dazu verleitet, durch das Leben anderer zu stöbern, um besser einschätzen zu können, was wir von uns selbst halten, verspüren wir wiederum die Notwendigkeit, ständig sichtbar zu sein. Denn Sichtbarkeit scheint heutzutage mit Erfolg gleichgesetzt zu sein. Hab keine Angst, für eine Weile zu verschwinden, um zu sehen, was in der Stille zu dir kommt.“

SB: [26:57] Mir gefällt diese Vorstellung. Mir gefällt die Vorstellung, mich in ein abgeschiedenes Cottage irgendwo in Irland zurückzuziehen, wo der Regen auf das Dach fällt und wo es kein Internet gibt. Aber ich bin mir natürlich bewusst, dass alle drei von uns, die an diesem Gespräch teilnehmen, erkennbar körperlich behinderte Frauen sind. Und diese Erkennbarkeit, diese Sichtbarkeit ist ein Mittel. Repräsentation ist unglaublich wichtig, um sicherzustellen, dass es nicht nur eine einzige Geschichte über Behinderung gibt.

SB: [27:29] Sichtbarkeit ist aber auch eine große Herausforderung. Meine Frage ist also: Wie können wir als behinderte Change-Maker sicherstellen, dass Sichtbarkeit nicht der einzige Maßstab für unseren Erfolg ist, an dem wir gemessen werden? Es geht schließlich nicht darum, unser eigenes Ego zu stärken. Und wie können wir gleichzeitig sicherstellen, dass die Sichtbarkeit, die wir unserer Arbeit verschaffen wollen, nicht zu einer persönlichen Bürde oder Last für uns wird?

SB: [27:59] Und nur zur Info: Ich habe keine Antwort auf diese Frage, aber ich hoffe, dass ihr sie habt, damit ihr alle meine Probleme lösen könnt und ich diese Woche nicht zur Therapie muss. Andraéa, ich gebe die Frage mal an dich weiter.

AL: [28:08] Wunderbar. Das ist wirklich ein perfektes Timing. Erst letzte Woche war ich in einem schönen Hotelzimmer am Strand. Das ist zwar kein Cottage, aber immerhin. Ich habe mein Handy für ein paar Tage ausgeschaltet, um [kurz] nachzudenken und an einigen Dingen zu arbeiten, die mir am Herzen lagen. Das wäre also mein erster Ratschlag für dich, Sinéad: Du musst dir erst einmal den nötigen Freiraum schaffen. Wir müssen uns selbst nämlich als Priorität einstufen.

AL: [28:44] Was ich erkannt habe, ist, dass ich nicht einfach nur um der Sichtbarkeit willen sichtbar sein will. Das ist es nicht, was ich mit meiner Arbeit erreichen will. Das Ziel der Sichtbarkeit ist – oder sollte es sein – ein Gespräch zu beginnen.

AL: [29:01] Wenn ich zurück an meine Zeit bei den Oscars auf dem roten Teppich denke, wollte ich die Leute nicht sagen hören: „Oh, wie schön, da ist ja eine schwarze Frau im Rollstuhl bei den Oscars.“ Ich hoffte vielmehr darauf, dass die Leute sagen: „Oh, das ist ja das erste Mal, dass wir eine schwarze, erkennbar behinderte Frau auf dem roten Teppich sehen, warum ist das so? Was ist uns in der Vergangenheit entgangen? Was müssen wir bei unserer Arbeit künftig ansprechen und berichtigen? Wie können wir in der Branche sicherstellen, dass sie nicht die letzte ist?“

AL: [29:34] Letztendlich muss sichergestellt werden, dass Sichtbarkeit nicht der einzige Maßstab ist. Vielmehr sollte die Notwendigkeit betont werden, tiefer gehende Fragen zu stellen, und anschließend muss dafür gesorgt werden, dass behinderte Menschen an den Entscheidungstischen sitzen, um bei der Beantwortung der Fragen und der Umsetzung der Veränderungen zu helfen.

AL: [29:54] Aber wie Maryangel schon bemerkt hat, geht es darum, den Tisch zu erweitern, Menschen mitzubringen, andere zu stärken und Platz zu machen, damit auch andere Personen mit Behinderung die Möglichkeit haben, etwas dauerhaft zu bewirken.

AL: [30:11] Ich weiß, dass es für mich sehr wichtig war, ein Unternehmen zu gründen. Wir wissen ja, dass Unternehmertum nichts für schwache Nerven ist, es ist nicht etwas, was jeder Person zusagt und dennoch gibt es manche, die sich für das Führen eines Einzelunternehmens entscheiden, und das ist großartig.

AL: [30:31] Ich wollte etwas aufbauen, das anderen behinderten Menschen Arbeit gibt, ihnen ein gutes Leben ermöglicht und sie in die Lage versetzt, Einfluss auszuüben, sich selbstständig zu machen und noch mehr zu erreichen. Es geht also darum, den Tisch zu erweitern und manchmal, so wie in meinem Fall, von ihm wegzurollen, damit jemand anderes diesen Platz einnehmen kann.

SB: [30:58] So ist es. Sichtbarkeit kann ja in vielfältiger Weise erreicht werden. Ob du nun als erste kleinwüchsige Person an der Met Gala teilnimmst, als erste schwarze behinderte Frau auf dem roten Teppich der Oscars erscheinst oder mit Women Enabled beim Generation Equality Forum in Mexiko über Herausforderungen und Chancen sprichst und darüber nachdenkst, wie sich die Inklusion von Menschen mit Behinderung auf die globale Agenda setzen lässt.

SB: [31:30] Maryangel, ich weiß nicht, ob du am Generation Equality Forum mitgewirkt oder daran teilgenommen hast, aber ich weiß, dass es in Mexiko stattfand. Ich würde gern wissen, ob es eine Gelegenheit war, Fragen über Arbeitsmöglichkeiten, Zugang zu Ressourcen, Internet und Bildung zu stellen und Behinderung unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtergleichstellung zu betrachten?

MGR: [31:54] Das ist eine sehr gute Frage, denn ich glaube nicht, dass es die erhoffte Wirkung hatte. Zunächst einmal war es nicht für uns alle zugänglich. Wie ist es überhaupt möglich, ein Generation Equality Forum zu veranstalten, das nicht zugänglich ist?

MGR: [32:07] Und ja, die einzelnen Punkte wurden zwar ein bisschen mehr ins Bewusstsein gerückt, aber ich würde sagen, dass es nicht die gewünschte Wirkung auf unsere Politik, Gesetzgebung und Systeme hier hatte.

MGR: [32:22] Ich denke, das ist passiert, weil wir nicht in die Gestaltung mit einbezogen wurden. Wären wir beteiligt gewesen, und mit „wir“ meine ich nicht nur Frauen oder Menschen mit Behinderungen, sondern alle, die historisch diskriminierten Gruppen angehören, dann wäre, glaube ich, aufgrund der intersektionalen Blickwinkel alles ganz anders verlaufen. Der Zugang zu den Informationen …

MGR: [32:48] Die Gespräche in den Generation Equality Foren waren wirklich super interessant. So aussagekräftig und so beeindruckend, aber am Ende zählt doch, dass die Ergebnisse sichtbar sind und dass klar ist, was die Regierungen tun und was die NGOs übernehmen, weil die Regierungen es nicht tun. Deshalb wurden die Foren ja auch gegründet.

MGR: [33:08] Wir können Tausende von Foren veranstalten und über tolle Dinge reden und die tollsten Personen einladen, aber wenn niemand zuhört, dann sehe ich keine Wirkung darin.

MGR: [33:22] Man kann auch eine Plattform haben, egal ob es eine Instagram-Seite mit hundert oder tausend Followern ist oder du bei den Oscars dabei bist, Beyoncé zur besten Freundin hast oder was weiß ich. Wenn du irgendeine Plattform hast, wie etwa diesen Podcast, dann ist das ein Privileg.

MGR: [33:41] Und was wir immer wieder betonen müssen, ist, dass keine Plattform zu klein ist. Jede Plattform zählt, vor allem weil Geschichten über uns nicht auf eine einzelne Geschichte beschränkt sind. Ich denke, so werden wir die größte Wirkung erzielen.

SB: [33:58] Ich finde die Punkte, die du angesprochen hast, so wichtig. Seit dem Generation Equality Forum hatte ich das Glück, mich mit Women Enabled auszutauschen. Ich denke, es beweist, dass selbst in Räumen, in denen wir die ausführlichsten Dialoge über Gleichberechtigung und Gerechtigkeit führen, Behinderung immer noch kein Teil des Gesprächs ist.

SB: [34:19] Ich kann mir vorstellen, dass wir alle schon mal in Gesprächen waren, wo wir Gebärdensprachdolmetscher*innen angefordert haben und uns dann gesagt wurde, dass doch niemand im Raum gehörlos sei. Ich behaupte dann immer, dass auch nie eine gehörlose Person kommen wird, denn auf welche Stufe des Othering, der Alterisierung, muss sie sich denn bitte begeben, um nach etwas Grundlegendem und Rechtmäßigem zu fragen?

SB: [34:39] Du hast aber auch einen anderen interessanten Punkt angesprochen, nämlich, dass es keine aktive Interessenvertretung gibt, die zu klein ist. Ich glaube, wenn wir über Interessenvertretung und Veränderung nachdenken, trieft auch hier vieles nur so vor Behindertenfeindlichkeit. Wir haben ganz am Anfang darüber gesprochen, dass Protest ein Weg ist, um Veränderungen zu erreichen. Für viele behinderte Menschen ist das jedoch eine unzugängliche Form, Veränderungen zu bewirken.

SB: [35:03] Wir sprechen oft über Couch-Politik oder Sofa-Aktivismus, aber eigentlich ist das etwas, das gefeiert und ermutigt werden sollte, denn wenn du dir Imani Barbarin anschaust, weißt du, dass du die Welt mit einem Hashtag verändern kannst. Oder sieh dir Alice Wong an. Es gibt so viele Menschen, die mit einer kleinen Aktion unser Bewusstsein, aber auch unsere Politik verändert haben.

SB: [35:27] Um auf deinen Punkt zurückzukommen: Ja, wir können alle davon träumen, auf der großen Bühne zu stehen, aber niemand von uns hat erstens dort angefangen und zweitens, jetzt verrate ich dir ein Geheimnis, ist das nicht die eigentliche Arbeit. Es ist ein schöner und gleichzeitig auch furchterregender Moment, aber nicht die eigentliche Arbeit.

SB: [35:42] Ich weiß, dass wir uns dem Ende unseres Gesprächs nähern, und ich denke, wir haben sowohl großen Organisationen, die geopolitische Versammlungen veranstalten, als auch Aktivist*innen, die gerade erst mit ihrer Arbeit beginnen, einen guten Rahmen gegeben.

SB: [35:59] Ich würde aber gern wissen, wie Erfolg in der Arbeit und in der Community, aber auch für euch persönlich aussieht? Woran wollt ihr ihn im Laufe der Zeit messen?

AL: [36:10] Das ist eine schwierige Frage. Wenn ich daran zurückdenke, worüber wir von der politischen Ebene bis hin zur Graswurzel gesprochen haben, dann ist das für mich das Entscheidende. Es geht darum, die Entwicklung einer Person, einer behinderten Person of Color zu sehen, die endlich eine Chance bekommt, die sie vorher nicht hatte. Weil das System so aufgebaut war, dass sie es nicht nutzen konnte.

AL: [36:38] Das bedeutet nicht, dass etwas für sie geregelt werden soll, sondern dass sie im Prinzip das Leben führen kann, das sie sich erträumt hat, und dass sie daran auch aktiv teilnehmen kann, nicht als Empfänger*in von Dienstleistungen, sondern als eine Person, die ihre Träume und Wünsche verwirklichen kann.

AL: [37:01] Für mich ist der Erfolg an der Graswurzel, der Basis, zu erkennen, wenn ich beispielsweise mit einem jungen Menschen mit Behinderung spreche oder mit einer Person of Color rede, die die einzige Person mit einer Behinderung an ihrem Arbeitsplatz ist. Sie haben die Anpassungen bekommen, sie haben sich dafür eingesetzt oder mussten vielleicht nicht einmal dafür kämpfen.

AL: [37:26] Es sind diese individuellen Geschichten, die zusammengenommen für mich den Erfolg ausmachen, und das ist auch der Grund, warum wir tun, was wir tun.

MGR: [37:36] Ja, das ist eine schwierige Frage. Ich schätze, entscheidend ist, wenn ich mich in anderen Frauen mit Behinderungen wiedererkenne und sie dir sagen, dass sie sich in dir wiedererkennen und die gleichen Erfahrungen teilen. Für mich besteht der Erfolg in dieser Macht der Gemeinschaft.

MGR: [37:54] Gleichzeitig wollen wir, wenn wir es können, alles haben, denn in einem System, das nicht für uns gemacht ist, ist es schwer, sich zurechtzufinden. Jede Kleinigkeit zählt. Jeder kleine Gewinn ist ein großer Gewinn.

MGR: [38:09] Beispielsweise wenn ein Unternehmen wie Gucci sich dafür einsetzt, dass wir hier in Mexiko als Frauen mit Behinderung zum ersten Mal in einer Zeitschrift erscheinen, dass wir sichtbar sind. Oder wenn wir Universitäten dazu bringen, dass mehr Menschen mit Behinderungen studieren und Teil des Bildungssystems werden, weil sie ihre privilegierten Grenzen endlich durchbrechen und nach vorne preschen. All diese großen und kleinen Gewinne sind für mich ein Erfolg.

MGR: [38:45] Manchmal passiert es mir, dass ich Dinge weitermache, weil ich mich dafür entschieden habe. Das bedeutet nicht, dass du als Mensch mit Behinderung ein*e Aktivist*in sein musst. Du kannst schließlich auch ein*e Aktivist*in sein, indem du einfach dein Leben lebst. Manchmal glauben wir nicht, dass unsere Stimme, unsere Plattform oder die kleinen Dinge, die wir jeden Tag tun, einen Einfluss auf andere Menschen haben. Für mich ist das aber ein Erfolg.

MGR: [39:08] Wenn Frauen mit Behinderungen in Mexiko nicht mehr zu Menschen zurückkehren müssen, die sie körperlich oder sexuell verletzen oder missbrauchen, weil sie endlich die nötige Barrierefreiheit haben – das wäre für mich natürlich der allergrößte Erfolg. Aber zuerst einmal vielleicht nur, dass wir eine dieser Frauen erreichen.

MGR: [39:26] Eine Frau, die wir definitiv aus diesem Kontext herausnehmen können. Eine Person, die sich vielleicht endlich als Teil einer Gemeinschaft fühlen kann. All diese kleinen Dinge sind meiner Meinung nach ein Erfolg. Wenn wir global arbeiten, arbeiten wir als Kollektiv, doch manchmal hilft es mir, genauer hinzuschauen, und wir reden dann über Individuen, was wirklich powerful und schön ist.

SB: [39:51] Wow, danke schön. Diese Definitionen von Erfolg werden mir im Gedächtnis bleiben und bestimmt auch meine eigenen prägen. In meiner Arbeit versuche ich seit Kurzem, eine neue Definition von Erfolg zu finden. Es geht darum, die Herangehensweise an die Inklusion von Menschen mit Behinderung in Frage zu stellen, insbesondere im Hinblick auf die Barrierefreiheit, weg von der Regelkonformität.

SB: [40:11] Es ist zwar wichtig, dass es Gesetze und politische Maßnahmen gibt, wobei viele Regionen diese nicht einmal haben, aber wenn Gesetze und politische Maßnahmen die Summe der Lebenserfahrungen von Menschen mit Behinderungen sein sollen, ist das ziemlich einschränkend und ungerecht.

SB: [40:28] Meine Definition von Erfolg ist also, dass wir einen neuen Status quo erreichen, bei dem wir nicht mehr an Compliance denken, sondern an Kreativität und daran, wie wir Barrierefreiheit berücksichtigen und gestalten können. Aber zuerst müssen wir uns um Bildung, Gesundheitswesen und berufliche Möglichkeiten kümmern, und das können wir alles auf einmal tun.

SB: [40;46] Ich möchte euch beiden herzlich dafür danken, dass ihr mit mir dieses Gespräch im Gucci Podcast geführt habt. Als wir unsere Diskussion begannen, erschien es mir sehr passend, dass sie am Weltfrauentag stattfindet.

SB: [40:58] Ich möchte unsere Zuhörerinnen und Zuhörer ermutigen, dass sie eine Aktion durchführen. Diese Aktion kann ein Tweet sein. Sie kann darin bestehen, dass Sie herausfinden, ob es in Ihrem Unternehmen eine Mitarbeiterressourcengruppe für Behinderung und Barrierefreiheit gibt, um ihr als Verbündete oder Verbündeter bzw. als behinderte Person beizutreten.

SB: [41:16] Sie können aber auch mit einer Freundin oder einem Freund über die Einbeziehung von Behinderung und Barrierefreiheit sprechen, denn ich nehme an, wenn Sie, in welcher Form auch immer, an diesem Podcast teilnehmen, haben Sie wahrscheinlich schon ein Interesse daran oder Sie sind einfach nur ein großer Gucci Fan. Ja, ich weiß schon. Aber um einen systemischen Wandel zu erreichen, müssen wir alle mitmachen. Bei Behinderung geht es nicht um mich, Andraéa und Maryangel, es geht um uns alle.

SB: [41:42] Ich wünsche Ihnen also einen schönen Weltfrauentag und viel Glück, egal zu welcher Aktion, groß oder klein, Sie sich entschließen. Halten Sie uns aber auf dem Laufenden. Folgen Sie Andraéa und Maryangel unbedingt auf ihrem Weg, die Welt zu erobern, was sie natürlich auf sehr vernünftige, gerechte und nicht kolonialistische Weise tun. Alles Liebe zum Weltfrauentag und viel Spaß mit den weiteren Gucci Podcasts. Vielen Dank.

I: [42:13] Danke, dass Sie sich den Gucci Podcast angehört haben. Mehr über CHIME FOR CHANGE erfahren Sie in den Anmerkungen zu dieser Folge.

Outro-Musik

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