Gucci Podcast:
Hallo und willkommen zurück beim Gucci Podcast. In der heutigen Folge haben wir zwei inspirierende Gäste, die seit Neuestem zum Beirat der Gucci Initiative Chime for Change gehören, Sinéad Burke und Jeremy O. Harris. Sie werden interviewt von Elina Dimitriadi, Fashion Features Editor der griechischen Vogue. In ihrem Gespräch geht es um Barrierefreiheit, Inklusion und darum, wie sie mit ihrer Arbeit Veränderungen zum Positiven bewirken.
Elina Dimitriadi:
Ich bin Elina Dimitriadi, Fashion Features Editor bei der griechischen Vogue. Ich habe die große Ehre, für unsere Dezember-Ausgabe Sinéad Burke und Jeremy O. Harris interviewen zu dürfen. Dieses Gespräch für unseren Gucci Podcast findet als Konferenzschaltung statt. Die Dezember-Ausgabe der griechischen Vogue trägt den Titel „Human After All“ und ist den außergewöhnlichen Menschen gewidmet, die sich für andere einsetzen und sich bemühen, diese Welt zu einem besseren Ort für alle zu machen.
Sinéad Burke ist Lehrerin und Autorin und setzt sich nicht nur für Menschen mit Behinderungen ein, sondern gilt auch weltweit als Pionierin für inklusive Mode und Design. Mit ihrem Unternehmen Tilting the Lens ermöglicht sie bedeutsame Gespräche und Maßnahmen in Bezug auf Aufklärung, Fairness und Barrierefreiheit. Jeremy O. Harris ist Schauspieler und Bühnenautor. Seine bekanntesten Werke sind sein Stück „Daddy“ und natürlich „Slave Play“, das für sage und schreibe zwölf Tony Awards nominiert wurde, mehr als jedes andere Stück zuvor. Darauf kommen wir später noch mal zu sprechen. Sinéad und Jeremy sind seit Kurzem Mitglieder des Beirats von Chime for Change.
Gucci rief Chime for Change 2013 ins Leben, um diejenigen, die sich weltweit für die Gleichstellung der Geschlechter starkmachen, zusammenzubringen und ihnen Rückhalt zu geben. Dabei geht es besonders um Aufklärung, Gesundheit und Gerechtigkeit. Chime for Change will zur Mitwirkung an einer echten Gemeinschaft inspirieren und im Kampf um Gerechtigkeit Menschen aus verschiedenen Ländern und Generationen zusammenbringen. Also – Sinéad, Jeremy, vielen Dank, dass ihr heute dabei seid. Ich freue mich sehr auf unser Gespräch.
Jeremy O. Harris:
Vielen Dank für die Einladung.
Sinéad Burke:
Ich danke dir. Es ist mir eine Freude.
Elina Dimitriadi:
Also, wie habt ihr die Pandemie und die Lockdowns bisher verbracht?
Jeremy O. Harris:
Also ich weiß ja nicht, wie es euch ergangen ist, aber ganz besonders in dieser Woche war ich zu überhaupt nichts in der Lage. Ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr zugestimmt habt, dieses Treffen später am Tag abzuhalten, meine innere Uhr ist jetzt voll und ganz auf Kalifornien eingestellt. Ich saß jeden Tag gut 20 Stunden vor dem Fernseher und bekam höchstens vier Stunden Schlaf, weil mir die US-Präsidentschaftswahlen echt Kopfzerbrechen bereitet haben. Ich glaube, so viel habe ich den Großteil des Lockdowns über nicht nachgedacht, denn ich habe mich in den letzten acht Monaten tatsächlich vor allem um mich selbst gekümmert. Ich wusste, dass meine Psyche ein paar schwerwiegende Veränderungen bewältigen muss – keine geselligen Abendessen, keine Aufführungen mehr und auch keine Treffen mit tollen Menschen wie Sinéad; stattdessen war ich sieben Monate lang jeden Tag alleine zu Hause.
Jeremy O. Harris:
Ich habe mir den Luxus gegönnt, einfach das zu tun, worauf ich Lust hatte. Und wenn ich Lust darauf hatte, sechs Stunden lang Anime-Serien zu sehen und zwei Burger zu essen, dann tat ich das halt. Wenn ich Lust darauf hatte, ein Buch über James Baldwin zu lesen, las ich es. Ich habe mich aber nicht dazu gezwungen, mehr zu tun, als ich wollte. Ich weiß nicht, wie du damit klargekommen bist, Sinéad.
Sinéad Burke:
Wow. Das klingt faszinierend. Mir gefällt die Idee, sich einfach nur um sich selbst zu kümmern. Für mich kam die große Umstellung im März, wenn ich mich recht erinnere. Eigentlich war ich immer auf Reisen, das war meine Existenz, meine Arbeit, mein Engagement. Ich habe schon lange nicht mehr so viel Zeit zu Hause und mit meiner Familie verbracht, das ist eigentlich beschämend. Plötzlich war ich zu Hause, an einem Ort, der tatsächlich zugänglicher ist als jeder andere Ort auf der ganzen Welt, weil es mein Zuhause ist. Welche Chancen ergaben sich dadurch? Ich konnte nicht reisen – würde es mir trotzdem gelingen, Intimität zu erzeugen, durch digitale Technologien? Konnte ich die Leute trotzdem dazu bringen, ihre Einstellungen und Geschäftsideen zu überdenken, um Menschen mit Behinderungen zu integrieren?
Diese Zeit war etwas, das ich wirklich brauchte und genoss, aber sie machte mir auch einiges bewusst, was mir ein bisschen Angst einflößte. Zu Beginn der Pandemie wurde mir klar, dass ich jede Menge Zeit hatte, und ich begann, darüber nachzudenken, was ich schon immer mal tun wollte, wofür ich aber bisher immer eine Ausrede parat hatte – „Keine Zeit!“ galt jetzt nicht mehr. Eines davon war, ein Kinderbuch zu schreiben. Ich bin eigentlich Grundschullehrerin. Ich schrieb über Gefühle, und aufgrund meiner Identitäten als Frau mit Behinderung und Lehrerin wurde mir bewusst, dass Kinder den Satz „Du bist gut so, wie du bist“ viel zu selten hören.
Als Frau mit Behinderung begriff ich, dass ich nicht aufgrund meines körperlichen Zustands behindert bin im Sinne des juristischen und sozialen Konzepts der Behinderung, sondern aus der Sicht der Welt, und dass wir nicht ändern müssen sollten, wer wir sind, um dazuzugehören, sondern dass wir einfach sein und uns dazugehörig fühlen sollten. Wir sollten das Gefühl haben, dass wir über alle nötigen Fähigkeiten und Mittel verfügen, um die Welt um uns herum zu verändern, damit sie ein sicherer und gerechter Ort ist, wo wir einfach wir selbst sein können. Das war also das große Projekt, an dem ich gearbeitet habe, ohne zu wissen, was dabei herauskommen würde. Das Buch ist jetzt in Bibliotheken und Buchläden erhältlich.
Jeremy O. Harris:
Whoa!
Sinéad Burke:
Aber davon abgesehen war es wie bei Jeremy … – Nun ja, wir werden sehen, ob es gut ist! Also, genau wie Jeremy genoss ich die Routine und nahm mir Zeit für ganz einfache Dinge, zum Beispiel, um jeden Tag einen Spaziergang zu machen. Ich versuchte mich daran, Mützen zu stricken und Sonnenblumen zu ziehen, was mir aber nicht besonders gut gelungen ist. Ich habe einfach keinen grünen Daumen, eher einen schwarzen Daumen. Aber die Vorstellung, mir etwas Gutes zu tun, sei es nun durch ein Kinderbuch oder tägliche Bewegung im Freien, eine Routine, das möchte ich gerne fortsetzen, egal, wie es weitergeht.
Jeremy O. Harris:
Wenn ich dazu mal schnell etwas sagen darf – Ich will dir nicht deinen Job wegnehmen, Elina, ich bin nur wie besessen von dieser …
Elina Dimitriadi:
Nein, nein, schon in Ordnung. Sprich nur.
Jeremy O. Harris:
Danke. Also, ich bin wie besessen von der Idee, ein neues Konzept zu erarbeiten, wie wir über Dinge wie Behinderungen sprechen oder auch Momente wie diesen nicht abzutun als … Eine meiner Lieblingsprofessorinnen, Magda Romanska, ist kleinwüchsig und verwendet einen Elektrorollstuhl. Sie hat ein wunderbares Essay darüber geschrieben, dass viele „Nichtbehinderte“ in den letzten sechs Monaten frustriert waren, weil Corona uns alle zu „Behinderten“ gemacht hat. Oder? Das hat allen neue Perspektiven aufgezeigt, die ihr als Professorin in Harvard, Yale oder am MIT – all die Universitäten, an denen sie unterrichtet hat – das Leben leichter gemacht hätten.
Sie hat so oft die Leute dort gebeten: „Hi, es wäre schön, wenn ich in den nächsten drei Monaten aus gesundheitlichen Gründen Fernunterricht machen könnte.“ Und Einrichtungen wie Harvard sagten: „Auf gar keinen Fall. Sie unterrichten hier vor Ort. Wir können keinen Fernunterricht machen.“ Und jetzt haben sie in den letzten sieben Monaten nichts anderes als Fernunterricht gemacht und gesehen, dass es wunderbar funktioniert.
Sinéad Burke:
Das ist die Herausforderung. Die Prinzipien der Barrierefreiheit kommen allen zugute. Oder? Ob man nun vorübergehend eingeschränkt ist, weil man draußen gestürzt ist oder weil man älter wird oder weil man an einer genetisch bedingten Krankheit leidet. Aus der Sicht von Behinderten ist es wirklich frustrierend, dass so viele Prinzipien der Barrierefreiheit, zum Beispiel das Arbeiten im Homeoffice, nie erwogen wurden, weil die meisten sie nicht brauchten. Und jetzt, in der Pandemie, erleben wir, dass diese Lösungen sehr wohl benötigt werden. Etwas, das unmöglich erschien, war durchaus möglich. Es gab nur kein Verlangen nach diesen Dingen.
Ich glaube, jetzt – im Übergang zur nächsten Phase – kommt es darauf an, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft nicht übereilt wieder aufbauen und Behinderte dabei als verwundbar betrachten sollten. Wir können nicht sagen: „Du musst zu Hause bleiben, der Rest von uns muss zurück in die reale Welt gehen. Wir anderen müssen die Welt wieder aufbauen, und zwar ohne dich.“ Das haben wir schon mal getan. Das ist der Grund, warum wir Behinderte als Belastung für die Gesellschaft und die Gemeinden bezeichnen, und wir sperren sie weg. Aber wenn wir jetzt über Social Distancing nachdenken und Orte und Räume dafür entwerfen, ist das ein Synonym für Barrierefreiheit.
Warum entwerfen wir sie nicht im Sinne der Barrierefreiheit zusammen mit Behinderten und schauen, was möglich ist? Denn das ermöglicht Nachhaltigkeit im Hinblick auf die Langlebigkeit von Orten und Räumen, und davon haben alle etwas. Warum also nicht? Wenn ich erklären müsste, warum das nicht schon längst geschehen ist, würde ich sagen, es liegt daran, dass so viele Menschen mit Macht, Menschen in Führungspositionen, der Meinung sind, dass sie alle Antworten kennen. Aber es gibt kaum Gespräche und Berührungspunkte im Hinblick auf Behinderungen. Die Leute wissen es einfach nicht. Wie kann jemand in einer einflussreichen Position die Hand heben und sagen: „Ich weiß nicht, wie das geht“?
Jeremy O. Harris:
Absolut.
Elina Dimitriadi:
Ja, das stimmt. Denn die Leute haben Angst, zuzugeben, dass sie es nicht wissen. Wenn man erwachsen wird, soll man plötzlich alles wissen. Man traut sich also nicht, Fragen zu stellen oder neugierig zu sein, um mehr zu erfahren; man will nicht zugeben, dass man nicht alles weiß. Man muss also mehr Leute einbeziehen und dann Fragen stellen, angefangen bei „Wie fühlst du dich?“ oder „Wie geht es dir?“ über „Was kann ich für dich tun?“ bis hin zu anderen Fragen.
Sinéad Burke:
Auf jeden Fall. Ich denke, es sind diese gemischten Gefühle – dass man auf Leute zugehen, neugierig sein und solche Fragen stellen kann, aber andererseits wird man sich dann auch bewusst, dass wir in einer Zeit leben, in der es unendlich viele Informationen im Äther gibt, die wir abrufen können, um selbst zu informieren. Es geht also darum, neugierig zu sein und auch Initiative zu zeigen, um uns selbst in diesen Gesprächen weiterzubilden. Aber wenn das für dich okay ist, Elina, würde ich Jeremy gerne eine Frage stellen.
Jeremy O. Harris:
Ich möchte dazu noch etwas sagen, und zwar sollten wir diesen Moment nicht als Moment des Stillstands betrachten, sondern vielmehr als Moment eines radikalen Umdenkens, als einen Moment, in dem wir diese Pause nutzen können, um wirklich neue Konzepte zur Inklusion zu erarbeiten. Oder? Nicht Konzepte, in denen Inklusion einen Bestandteil darstellt, sondern Konzepte, in denen Inklusion von Grund auf verankert ist. Mir kam der Gedanke, dass kein großes Label dieses Jahr eine Schau veranstalten konnte und ob das nicht der perfekte Moment für sie wäre, nachzudenken, wie sie das zu ihrem Vorteil nutzen können? Wie das ein inklusiver Moment nicht nur für das Umfeld sein könnte, sondern auch, wer in der ersten Reihe sitzt? Wie diejenigen in der ersten Reihe sitzen? Wer ist eingeladen, sich an diesem Prozess zu beteiligen, um die Kleidung zu sehen? Wem können wir die Kleidung schicken, wer soll sie tragen? Solche Dinge sind wirklich spannend, wie ich finde.
Sinéad Burke:
Wie wir über Barrierefreiheit und Technologie denken, über Alt-Texte oder Bildunterschriften oder Beschreibungen. Ich finde es immer faszinierend, dass Modenschauen auf einem Laufsteg stattfinden, der ja letzten Endes nichts anderes ist als eine Rampe. Und dennoch sehen wir nur sehr selten einen Rollstuhlfahrer oder jemanden, der diesen Ort über eine Rampe betreten müsste oder könnte. Aber Jeremy, was ich eigentlich fragen wollte: In einer Pandemie, oder generell in Zeiten des globalen Wandels, erhoffen wir uns meistens Lösungen von Politikern, Ökonomen oder Finanziers.
Aber immer wieder sind es die Künstler, die Autoren, die uns nicht nur eine Ausflucht und Unterhaltung bieten, sondern uns auch das nötige Vokabular mitgeben, damit wir uns sicher fühlen, oder die Sprache, die wir brauchen, um den nötigen Umbruch herbeizuführen. Fühlst du dich dadurch unter Druck gesetzt? Oder hat es etwas Zeit gebraucht, dir selbst den Raum zu geben, um dich nur um dich selbst zu kümmern? Oder hat das immer gut gepasst?
Jeremy O. Harris:
Ich glaube, es braucht etwas Zeit, und man muss sich vom Druck befreien. Ich meine, ich glaube … Danke für die Frage. Ich glaube, die Leute erwarten in solchen Momenten immer von Künstlern, dass sie etwas tun. Sie verweisen auf König Lear, sie sagen: „Shakespeare schrieb König Lear nach der Pest!“, und ich sage: „Ja, das stimmt. Aber in König Lear geht es nicht um die Pest. König Lear ist eine intrigante Seifenoper über eine reiche Familie, deren Vater etwas verrückt wird und seinen Reichtum nicht seinen Kindern überlassen will.“ Oder? Es ist also scheinbar eine Reihenfolge, aber etwas sexyer, denn es gibt einen Pool.
Sinéad Burke:
Jeremy ist ganz aufgeregt.
Jeremy O. Harris:
Oh ja. Viele junge Künstler fühlen sich vermutlich unter Druck gesetzt, ein großartiges Stück über Donald Trump oder die Coronakrise zu schreiben. Ich frage mich manchmal, ob dieser Druck etwas abgemildert werden könnte, wenn wir sie daran erinnern, dass das großartige Stück nach der Pest für Shakespeare ein kitschiges Drama vergleichbar mit einer Sonntagabend-Fernsehschnulze war und nicht ein Stück über Leute, die mitten auf der Straße an der Pest sterben, und dass das okay ist. Die Stücke über Menschen, die in den Straßen an der Seuche sterben, waren nicht wirklich erfolgreich. Niemand möchte sich so ein Stück ansehen. Und vor allem als jemand aus einer systemisch unterdrückten Gruppe von Menschen finde ich das okay. Oder?
Sowohl als queere wie auch als schwarze Person in Amerika muss ich mich immer wieder selbst daran erinnern. Ich muss nicht jedes Mal etwas über diese Unterdrückung schreiben, wenn ich etwas schreibe, damit ich das Gefühl habe, etwas Wertvolles zu leisten. Ich kann über meine eigenartige Sucht nach Sport-Anime schreiben und wie ich dadurch sechs Monate lang nur auf dem Sofa rumhing und wie gut es sich anfühlte, einfach nur rumzuhängen und nicht ständig aktiv etwas zur Gesellschaft beitragen zu müssen.
Elina Dimitriadi:
Ja, das stimmt. Verblüffend. Ja. Ich habe auch darüber nachgedacht, dass ihr beide Social Media als Plattform nutzt und dass sie während der Pandemie zu unserer wichtigsten Plattform geworden sind. Glaubt ihr, dass Social Media eine Möglichkeit bieten könnten, für mehr Demokratie zu sorgen, damit alle Stimmen, eure Stimmen, gehört werden? Dass wir nicht nur kleine Podeste, sondern große Plattformen brauchen? Das hast du doch mal gesagt, Sinéad: Wir brauchen Plattformen statt Podeste. Oder?
Sinéad Burke:
Ja. Ich liebe es, wenn ich mit Zitaten von mir selbst konfrontiert werde. Aber ja, ich erinnere mich, das mal gesagt zu haben. … Nein, danke.
Elina Dimitriadi:
Alle möglichen Unternehmen oder Organisationen gewinnen Behinderte oder Schwarze für sich und machen etwas mit ihnen, eine Kampagne oder so was, und sie stellen sie auf ein Podest, aber sie … Sie bekommen keine richtige Plattform.
Sinéad Burke:
Ja. Wenn ich dazu zuerst etwas sagen darf und Jeremy, du kannst dann dazustoßen.
Jeremy O. Harris:
Bitte, schieß los.
Sinéad Burke:
Du hast bestimmt auch ein paar wichtige Gedanken dazu. Ich finde das Konzept von Plattformen statt Podesten sehr wichtig. Wir haben doch vorhin darüber gesprochen, dass einflussreiche Leute nicht unbedingt wissen, wie es weitergeht. Ich glaube, um Lösungen zu entwickeln, müssen wir als Erstes zusammenarbeiten, Lösungen gemeinsam entwerfen und erstellen. Man entwirft und entwickelt also nicht für jemanden oder etwas, sondern alles geschieht im Rahmen einer gleichberechtigten Partnerschaft. Das ist leichter gesagt als getan, zum Beispiel in der Chefetage eines Modelabels oder in einer Marketingkampagne, aber ich finde es wirklich wichtig.
Deine Frage zielt auf mehrere Dinge ab. Ich möchte auf zwei davon eingehen. Vor allem in den Schulen werde ich gefragt, wozu Symbolpolitik überhaupt gut ist. Symbolpolitik ist gewissermaßen nichts, in das einer von uns investieren möchte. Wenn aber Symbolpolitik ein Kriterium herbeiführt, das die Welt widerspiegelt, das uns einen Ausgangspunkt verschafft, um diese Überlegung in Kampagnen oder Unternehmen zu manifestieren, dann ist das gut. Aber ich frage mich vielmehr – es ist zwar wunderbar, diese unterschiedlichen Stimmen, Aussehen, Hintergründe der ganzen Welt zu zeigen. Aber was kommt als Nächstes?
Profitieren wir einfach nur vom Aussehen dieser Menschen? Oder bieten wir ihnen Raum, eine gleichwertige Partnerschaft? Ich glaube, es gibt Beispiele dafür, die in den Mittelpunkt rücken. Jeremy hat hervorragende Arbeit geleistet, mit seinem Circle Jerk, aber auch mit seinem Fonds, mit dem er Leute finanziell dabei unterstützt, ihre Fähigkeiten und ihre Kreativität zu erkunden, auszuprobieren und eventuell auch zu scheitern. Es gibt diese Vorstellung, dass eine Minderheitenstimme, wenn sie eine Chance bekommt, damit etwas Außergewöhnliches, Hervorragendes erreichen muss. Sie darf nur etwas Herausragendes bewirken, ansonsten darf sie nicht existieren.
Ich finde, man muss ihnen Raum lassen. Wir brauchen Chancen, keine Spitzenleistungen, und die Ressourcen müssen besser aufgeteilt werden, damit alle eine faire, gerechte Chance bekommen. Denn selbst wenn diese Chance gegeben wird, aber nicht zugänglich ist, für wen oder in welchem Rahmen existiert sie dann? Du hast Social Media angesprochen. Für mich sind Social Media sehr wichtig. Aber wie wir erst kürzlich bei den US-Wahlen gesehen haben, ist es wirklich wichtig, dass diejenigen, die in diesen Institutionen Einfluss haben, auch erkennen, wie Plattformen missbraucht und manipuliert werden können und dass sie auch ein Hilfsmittel zur Aufklärung sein können. Sie können aber auch zur Folge haben, dass sich die Leute einsamer fühlen statt dazugehörig.
Für mich als sichtbar behinderte Frau ist die Vorstellung, dass ich ein Netzwerk aus Menschen erschaffen kann, auf die ich mich verlassen kann, denen ich vertrauen kann, von denen ich lernen kann und über die ich mich informieren kann, für mich persönlich und beruflich ist das sehr wertvoll. Aber wie können wir dafür sorgen, dass wir die Leute in der Anonymität der Social Media fördern? Ich glaube, das ist eine Herausforderung, mit der wir noch lange zu tun haben werden.
Jeremy O. Harris:
Ich stimme dem, was Sinéad gerade gesagt hat, voll und ganz zu. Danke auch, dass du Circle Jerk erwähnt hast.
Sinéad Burke:
Ich hätte nie gedacht, dass wir darüber mal in einem Gucci Podcast sprechen würden. …
Elina Dimitriadi:
Ich habe es neulich auf Twitter gesehen. Es war toll.
Jeremy O. Harris:
Ich bin so stolz auf Michael Breslin und Patrick Foley und Cat Rodríguez und Ariel Sibert und Rory Pelsue, auf das ganze Team. Sie sind unglaublich. Du hast etwas angesprochen, das mir sehr am Herzen liegt, das ich versuche, vorzuleben, und ich weiß, dass du es auch vorlebst, und zwar … Also mir ist durchaus klar, dass man, wenn man zur Welt der Mode oder des Fernsehens oder des Films gehört, dass man sich bewusst in einen Bereich des Kapitalismus begibt. Oder? Kapitalismus sorgt sich nur selten um die, die dazugehören. Kapitalismus dient dazu, mit unseren Identitäten Gewinn zu erzielen, richtig?
Ich glaube, mit dieser Erkenntnis, dass das passiert, versuche ich, für Unternehmen Möglichkeiten vorzuleben, wie wir in diesen Einrichtungen so ethisch wie möglich arbeiten können und die Gewinne, die mit meiner Identität erzielt werden, oder mit Sinéads Identität, an andere Menschen weiterzugeben, die möglicherweise nicht in der Lage sind, von diesen Dingen zu profitieren. Egal, ob das nun an ihrer Identität liegt oder einer anderen sozialen Position, zu der sie gehören. Oder? Wenn ich mir also ansehe, was dieser Moment für meine Karriere bedeutet, und was Social Media für all das bedeuten, glaube ich, dass ich Social Media nutzen kann, um die Realität abzubilden, die ich der Welt vor Augen führen will, eine Realität, in der die Menschen sich um andere Menschen kümmern. Oder? In einer Welt, in der es meistens vorteilhafter ist, sich nicht um andere zu kümmern, seine Mitmenschen oder andere aus der Gemeinschaft zu ignorieren.
Ich glaube, deswegen bin ich Theaterkünstler geworden – ich liebe die Gemeinschaft, und ich liebe es, eine Gemeinschaft aufzubauen und mich um sie zu kümmern. Also ich finde solche Sachen wie TikTok großartig. Das haben meine Coronavirus-Mixtapes wohl ganz eindeutig bewiesen. Es begann als eine Sammlung vieler verschiedener Videos, die ich sah, und jetzt sind das einfach TikToks. Was mir am meisten an TikTok gefällt, ist die Tatsache, dass deine Für-Dich-Seite eine Community wird. Oder? Sie spiegelt das wider, was dir gefällt, in guten wie in schlechten Zeiten. Das Gute daran ist, dass ich sehe, worüber junge, queere, behinderte Aktivisten nachdenken, worüber junge, queere, schwarze Aktivisten nachdenken, worüber junge, queere, muslimische Aktivisten nachdenken.
Das ist buchstäblich meine Für-Dich-Seite. Denn das sind anscheinend die Menschen, deren Weltanschauungen ich anziehe oder zu denen ich mich hingezogen fühle. Dass ich mich umgeben konnte mit ihrem Humor, ihrer Wut, ihren Leidenschaften, was sie schön oder hässlich finden, das war für mich in einer Zeit extremer Einsamkeit wirklich sehr inspirierend.
Sinéad Burke:
Was auch toll ist an diesen Plattformen, wie du eben schon gesagt hast, Jeremy, ist, dass vor allem so viele junge Leute Inhalte erschaffen können, Erzählungen, Geschichten und Konzepte von sich selbst, die manchmal über ihre Identitäten hinausgehen. Man gibt ihnen nicht nur die Möglichkeit, auszudrücken, wie es zurzeit ist, in den USA oder Europa queer und behindert zu sein, sondern sie können auch über ihre Interessen berichten, die an diese Identitäten gebunden und davon beeinflusst sind, aber das ist keine Definition, worum es bei ihrer Kreativität oder ihren künstlerischen Impulsen gehen muss.
Jeremy O. Harris:
Absolut. Ich meine, diese jungen Leute zeigen mit ihrem Humor, wie herrlich schlecht sie dran sind, auf eine positive Weise. Sie haben diesen zynischen, ununterdrückten Humor. Ich finde, das ist der ehrlichste Humor überhaupt. Dadurch entstehen neue Modelle und Konzepte, wie wir diese jungen Menschen aus unterdrückten Minderheiten betrachten, auf eine Weise, die …
Sinéad Burke:
Ich mag dich wirklich sehr, aber jetzt spreche ich hier in einem Podcast über junge Leute …
Jeremy O. Harris:
Oh ja.
Sinéad Burke:
… und ich habe mich noch nie in meinem Leben so alt gefühlt, Jeremy. Vielen Dank. Ich weiß es zu schätzen. Mit 30 ist man … für die jungen Leute, und ich bin jetzt …
Jeremy O. Harris:
Du hast gerade ein Kinderbuch geschrieben. Letzten Endes sind das die jungen Leute, an die ich denke, die Elfjährigen.
Sinéad Burke:
Ja.
Jeremy O. Harris:
In deren Augen werden wir immer zu alt sein.
Sinéad Burke:
Diejenigen, die noch nicht von den Ansichten der Welt beeinflusst sind, die eine Möglichkeit haben, indem sie mit diesen Gemeinschaften interagieren oder indem sie Kinderbücher lesen oder Informationen oder Theater oder Kreativität als Ganzes, das ermöglicht es ihnen – so kitschig das auch klingt – davon zu träumen, was möglich wäre.
Elina Dimitriadi:
Denn wenn sie repräsentiert werden, können sie jemanden sehen, der genau so ist, wie sie. Ich schätze, es war schwierig für dich. Sinéad, ich weiß, dass du zu deinem Vater aufschauen und das erkennen konntest. Er machte dir klar, dass du alles tun kannst. Aber davon abgesehen war es nicht möglich, zu jemandem aufzusehen, der so ist wie du, der etwas erreicht hat, der Lehrer wird oder so etwas. Und ich nehme an, für dich, Jeremy, als queerer Schwarzer war es auch schwierig, dir vorzustellen, jemand wie du könnte für einen Tony Award nominiert werden.
Sinéad Burke:
12 Tonys! 12 Tonys!
Jeremy O. Harris:
Ich meine, um ehrlich zu sein, vielleicht ging es dir auch so, Sinéad, also für mich sind Gespräche über Identität sehr kompliziert. Ich hatte mal ein sehr anregendes Gespräch mit Dev Hynes darüber.
Elina Dimitriadi:
Ich liebe seine Musik. Ja.
Jeremy O. Harris:
Dev ist wunderbar.
Elina Dimitriadi:
Ja.
Jeremy O. Harris:
Aber als ich aufwuchs, war ich wie besessen von The Archive und diesem Whitewashing der Geschichte, und einige meiner Idole, mit denen ich mich am meisten identifizieren konnte, waren Leute wie Edward Olvy. Oder? Oder Leute wie George Bernard Shaw. Ja, ich weiß, das ist komisch, aber George Bernard Shaw war immer einer meiner Lieblinge.
Sinéad Burke:
Wir müssen mit dir nach Dublin fahren, Jeremy.
Jeremy O. Harris:
Das Besondere an diesen Leuten war, dass sie ein ähnliches Empfindungsvermögen hatten wie ich. Ich denke, das ist etwas, das wir alle in der Mode sehen. Oder? Ich sehe vielleicht nicht aus wie Naomi Campbell, aber wenn ich ihren ganz speziellen Walk sehe, erinnert mich das an etwas, das ich anstrebe, oder es fühlt sich an wie etwas, das für mich unerreichbar ist. Adrienne Kennedy schrieb mir mal in einer E-Mail etwas ganz Wunderbares über Audrey Hepburn. Sie schrieb in etwa: „Ich dachte nie, dass ich Audrey Hepburn sein würde, aber ich eiferte ihr nach, denn sie war mir weit überlegen.“
Ich hatte tatsächlich in der Theaterwelt Vorbilder, Leute, die wie ich aussahen, denn ich kannte The Archive. Richtig? Ich wusste, das George C. Wolfe das Stück The Colored Museum geschrieben hatte und dann Angels in America inszenierte, es war vor meinem Stück das Stück mit den meisten Tony-Nominierungen. Ich mache hier gerade die Daumen-hoch-Geste. Er leitete das öffentliche Theater und war ein hervorragender Vorkämpfer für andere Künstler wie Robert O’Hara, der schließlich Regie bei Slave Play geführt hat und ein schwarzer, queerer Drehbuchautor war. Richtig? Ich glaube, ich fand es am schwierigsten, unter all diesen Drehbuchautoren mehr Leute mit meinem Einfühlungsvermögen zu finden. Ich denke, darum habe ich auf diese jungen Leute mit dem zynischen Humor verwiesen.
Ich fühlte mich so allein mit meiner linksgerichteten Sichtweise auf die Welt oder einer Sicht, bei der man eine Idee von allen Seiten betrachtet, um etwas Komisches daran zu finden. Ich liebte die Dunkelheit. Ich glaube, Schwarzen, Frauen, Queeren wird so oft gesagt: „Es kommt auf die Darstellung an, also sollten wir die Dunkelheit nicht in die Welt projizieren. Wir sollten Licht und all die anderen Dinge zeigen“, während für mich die hellsten Dinge manchmal am dunkelsten sind. Ich glaube, Menschen zu finden, die dieses Einfühlungsvermögen für dunklen, zynischen Humor, Scharfsinn und Rigorosität haben, macht es noch schwieriger, Vorbilder zu finden.
Und oft war es so, dass ich, wenn ich diese Menschen fand, feststellte, dass sie nicht unbedingt wie ich aussahen, aber wie ich fühlten, und das war dringend notwendig. Ich weiß nicht, ob du dich auch so gefühlt hast, Sinéad.
Sinéad Burke:
Ich glaube, das ist das Schöne an der Identität. Meine Erfahrungen als behinderte, weiße Frau aus der Arbeiterklasse, die aus einem Dorf kommt, lassen sich nicht mit deinen vergleichen, Jeremy, aber unsere Erfahrungen sind teilweise durch die Blickwinkel geprägt, aus denen wir die Welt betrachten, die es uns ermöglichen, eine intimere und unmittelbare Bindung einzugehen. Wir sehen Teile von uns selbst in anderen, trotz der Traumata oder Herausforderungen, durch die wir voneinander getrennt werden. Aber zwischen diesen Erfahrungen spürt man sofort eine Verbindung. Ich hatte das große Glück in meiner Familie, dass mein Vater auch klein war.
80 Prozent der kleinen Menschen haben normal große Eltern. Nachdem meine Eltern Little People of Ireland gegründet hatten, stellte sich bald heraus, dass die meisten meiner kleinwüchsigen Freunde die einzigen Kleinwüchsigen in ihrer Familie sind. Ich glaube, ich konnte erst sehr viel später die Charakterstärke zum Ausdruck bringen, dass ich tun und sein konnte, was ich wollte, weil ich jemanden in meinem Zuhause hatte, der so war wie ich. Das ist vermutlich auch der Grund, warum ich mich so sehr für Mode interessiere. Ich weiß noch, als ich elf oder zwölf war, fragte ich meinen Vater nach Schuhen und woher ich Kleidung bekommen könnte, die mir wirklich passt.
Mein Vater konnte mir nicht weiterhelfen, denn das war ein Thema, das ihn als kleinwüchsiger Heranwachsender oder als Elternteil nicht interessierte, er betrachtete Kleidung aus einer rein funktionalen Sicht. Jetzt tut er das natürlich nicht mehr, aber damals auf jeden Fall. Mir ist durchaus bewusst, dass ich durch meine Fürsprache und meine Arbeit immer eine Ausnahme sein konnte. Ich war die erste kleine Person auf dem Cover der Vogue. Ich war die erste kleine Person, die an der Met Gala teilnehmen durfte. Ich bin sehr dankbar für diese Präsenz, dafür, dass ich einer Zwölfjährigen, die zu Hause vor dem Fernseher sitzt und das erste Mal jemanden wie sich selbst sieht, ein starkes Vorbild sein kann.
Es geht nicht um mich, sondern darum, dass meine körperliche Erscheinung für jemand anderen von Bedeutung sein könnte. Mir ist auch klar, und das ist sehr wichtig für diesen Fortschritt, dass ich nicht nur die Ausnahme sein sollte. Was kann ich tun, um sicherzustellen, dass meine Erfahrungen, Erkenntnisse und Informationen, all die Fähigkeiten, die ich mir als die Ausnahme angeeignet habe, wie kann ich das nutzen, um Unternehmenskulturen oder die Arbeitsweisen von Unternehmen zu verändern, um ein Umdenken zu bewirken? Was können wir zum Beispiel tun, um solche Unternehmen zu motivieren, Behinderte einzustellen? Es reicht nicht aus, wenn Unternehmen sagen, dass sie Diversität „akzeptieren“ oder „begrüßen“.
Was verbirgt sich dahinter? Was wird konkret umgesetzt? Wurden Beziehungen zu diesen Gemeinschaften und Behindertenverbänden aufgebaut, damit sie sich nicht ausgenutzt fühlen und als Aushängeschild dienen müssen, nur um Teil dieses Unternehmens sein zu dürfen? Wie spricht man mit Elfjährigen? Wie entwickelt man Stipendien und konzipiert Bildungsmöglichkeiten für diejenigen, die nicht glauben, dass dieses Unternehmen und diese Branche als Ganzes sie mit offenen Armen willkommen heißen? Wie macht man sich das zunutze, um dafür zu sorgen, dass jemand nicht nur die erste Person auf dem Cover der Vogue ist? Man könnte die erste sein, aber wie Kamala Harris schon sagte …
Elina Dimitriadi:
Du wirst nicht die letzte sein.
Sinéad Burke:
Du wirst nicht die letzte sein.
Elina Dimitriadi:
Ja. Wie Kamala Harris schon sagte, sie ist die Erste, aber ihre Mutter sagte zu ihr: „Sorge dafür, dass du nicht die Letzte sein wirst.“ Also ich finde, du machst das ganz hervorragend, …
Sinéad Burke:
Wir werden sehen.
Elina Dimitriadi:
… wie du dafür sorgst.
Sinéad Burke:
Veränderungen müssen nach wie vor messbar und greifbar sein, das ist das Problem dabei. Wir versuchen, kulturell etwas zu bewirken, sei es in der Kunst, Mode, Technologie oder im Design. Dabei versuchen wir, Systeme zu verändern, die seit Menschengedenken in dieser Form existieren. Eine radikale Veränderung braucht mehr Zeit, als mir lieb ist. Aber eine Veränderung über Nacht wird in der Regel nur umgesetzt, damit eine werbewirksame Pressemitteilung veröffentlicht werden kann. Sie erfolgt nicht, damit sie in neuen Arbeitsweisen verankert werden kann. Ich glaube, wir müssen Geduld mit uns selbst haben und gleichzeitig den Unternehmen oder dem kulturellen Wandel gegenüber unnachgiebig sein, damit er so schnell wie möglich geschieht. Hier geht es schließlich um Menschen.
Elina Dimitriadi:
Mm-hmm (zustimmend).
Jeremy O. Harris:
Ja.
Sinéad Burke:
Es geht darum, eine Welt zu erschaffen, in der die Menschen sich sicher und willkommen fühlen, in der sie fair behandelt werden und einfach sie selbst sein können. Ob das nun bei der Arbeit ist oder zu Hause oder in der Freizeit. Es ist so, wie du schon anfangs sagtest, Jeremy – wir sollten diesen Moment nutzen, um unsere Vorgehensweisen und Methoden zu überdenken. Jeremy und ich haben oft über die Barrierefreiheit in der Kunst diskutiert. Viele Theater zum Beispiel sind historische Gebäude, können also aus gesetzlichen Gründen nicht barrierefrei umgestaltet werden.
Aber Gesetze können sich ändern. Wie können wir kreative und innovative Lösungen erarbeiten, um den Zugang zu Stätten wie Theatern zu ermöglichen? Denn jetzt sind sie geschlossen. Wenn wir warten, bis mehr Ressourcen bereitstehen oder das Interesse zunimmt, werden die Theater wieder geöffnet sein, und dann geht es nur noch darum, die Sitzplätze zu füllen. Jetzt ist also der perfekte Zeitpunkt, um möglichst viele Menschen einzubeziehen. Niemand soll ignoriert werden.
Jeremy O. Harris:
Ich meine, das wird daran gemessen, was du erzählt hast, es geht darum, Leute einzustellen, statt sie nur in die erste Reihe zu setzen oder auf dem Titelblatt eines Magazins abzubilden. Jedes Mal, wenn ich in einem Theater bin, sehe ich mich um und halte Ausschau nach Leuten, die wie ich aussehen. Also nicht nur, wie viele Schwarze dort sind, sondern wie viele junge Leute, offenkundig queere Leute, oder Transgender, sondern wie viele Leute sitzen im Publikum, die nicht so aussehen, als ob sie oft ins Theater gehen? Richtig?
Sinéad Burke:
Viele Leute verstellen sich.
Jeremy O. Harris:
Auf jeden Fall. Und wenn ich dann mit den Leuten rede, die an diesen Stücken arbeiten, oder wenn ich in ein Theater gehe, das eins meiner Stücke aufführen will, oder mit einer Filmgesellschaft rede, die eins meiner Stücke verfilmen will, dann sehe ich mich auch in den Büros um und schaue, wie viele Leute dort sind. Das ist meistens die beste Möglichkeit. Wenn du siehst, wie wenig Leute wie du in einer Firma arbeiten, erkennst du am ehesten, warum so wenig Leute wie du im Publikum sitzen. Meistens haben auf Inklusion bedachte Aufführungsstätten auch ein vielfältigeres Publikum. Als wir an Slave Play arbeiteten, erzählte ich allen, dass Inklusivität nicht nur gut aussieht und die Moral hebt. Sie ist tatsächlich gut für’s Geschäft, denn dadurch fühlen sich mehr Leute von dir eingeladen.
Warum sollte man nicht so viele Leute wie möglich einladen wollen? Warum sollte man nicht so ein guter Gastgeber sein wollen, der die Bedürfnisse aller Menschen, die er zu sich einlädt, erkennt? Wenn dir also klar ist, dass du die Bedürfnisse kleiner Menschen nicht kennst, dann stelle eine kleine Person ein, damit sie dir hilft, alles richtig einzurichten.
Elina Dimitriadi:
Ihr beide arbeitet jetzt zusammen für Chime for Change. Wie versteht ihr eure Rolle, wo ihr doch jetzt Mitglieder des Beirats seid? Habt ihr irgendwelche Gedanken, Pläne oder sprecht ihr darüber, was ihr tun könnt?
Jeremy O. Harris:
Nein, noch nicht. Ich meine, unser erstes Gespräch hat sich mit so vielen Dingen, die wir hier besprechen, überschnitten und auch mit vielen Dingen, über die wir auch in den größeren Chime for Change Meetings sprechen. Es geht darum, welche Plattformen Gucci durch Chime for Change den Menschen verschaffen kann, die bislang bei den Gesprächen darüber, für wen und wofür Mode gemacht wird, außen vor gelassen wurden. Ich kenne Alessandro, und ich weiß, dass viele andere Leute, die dort arbeiten, sich sehr dafür einsetzen, so viele verschiedene Menschen wie möglich einzubeziehen.
Sie haben nicht unbedingt all die nötigen Mittel oder Kenntnisse darüber, wie man diese Leute, diese Communitys erreicht und in die Welt von Gucci einführt. Das ist, wie ich finde, einer der aufregendsten Aspekte an Chime for Change. Aber auch all die tatsächlich notwendige wohltätige Arbeit, die die Initiative an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt durchführt im Hinblick auf Geschlechterfragen und Sexualität und diese riesigen Wissenslücken überbrückt, durch die bestimmte Menschen in Gefahr sind, das finde ich so spannend. Wenn ich mir nur ansehe, was mein Freund Adam Eli dieses Jahr mit dem Leitfaden zu Geschlechterfragen gemacht hat, das war äußerst informativ und faszinierend für viele verschiedene Leute, die langsam ein Verständnis für die Geschlechtsidentität entwickeln, die ihnen zuvor nicht bewusst war.
Sinéad Burke:
Ja. Ich finde es sehr optimistisch, sozusagen. Das Wunderbare an Gucci, selbst als Wort, ist, dass es über Ländergrenzen und Sprachen hinweg verstanden wird. Es gibt kaum jemanden, der nicht weiß, was Gucci ist. Durch die Investitionen in die Arbeit zur Gleichstellung der Geschlechter oder Barrierefreiheit oder Rassengerechtigkeit besteht eine reale Chance, schneller Fortschritte zu erzielen, denn wenn ein Unternehmen wie Gucci in diese Arbeit investiert, ist das von Bedeutung.
Ich glaube, damit geht auch eine Herausforderung einher, denn diejenigen, die wie Jeremy und ich in Initiativen wie Chime for Change wichtige Positionen einnehmen, tragen eine große Verantwortung, diese Chancen vorantreiben zu können. Und wir als Einzelpersonen müssen dann Raum für andere schaffen, damit diejenigen, die nicht teilnehmen können, trotzdem gehört werden und ihr Wissen einbringen können. Ich finde die Arbeit, die weltweit im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter geleistet wurde, überaus wichtig, ebenso wie das Dokumentieren der Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern.
Ich glaube nämlich, wir gehen mitunter davon aus, dass Identität in verschiedenen Ländern die gleiche Bedeutung hat und dass die Kämpfe oder Chancen, die jemand in einem Teil der Welt erlebt, denen in anderen Teilen entsprechen. Das entspricht jedoch absolut nicht der Realität. Als Lehrerin habe ich die Erfahrung gemacht, dass Kinder auf eine Frage oft die Antwort geben, die du ihrer Meinung nach hören willst. Dieses Prinzip gilt auch für unsere Meetings. Bei solchen Zusammenkünften plappert man oft eine Antwort nach, von der man glaubt, dass sie gehört werden muss. Ich finde, diejenigen von uns, die Positionen wie bei Chime for Change einnehmen, müssen sich unbedingt selbst hinterfragen und ehrlich und transparent, aber auch lösungsorientiert sein.
Die vorhandenen Herausforderungen erkennen zu können, ist das eine. Wir müssen aber bei dieser Arbeit konstruktiv sein, um realistische Möglichkeiten und Lösungen zu entwickeln, sei es durch Einstellungsprogramme oder Stipendien oder Hilfsfonds. Je mehr, desto besser. Wir brauchen mehr von uns in beratenden Gremien wie diesem, um vielfältige, nachdenkliche, hinterfragende Sichtweisen einzubringen, denn das wird wirklich gebraucht.
Jeremy O. Harris:
Du hast da etwas angesprochen, was mich an dieser Gruppe wirklich begeistert. Ich bin nämlich einer von, ich glaube, nur vier Cis-Männern in diesem Beirat, vielleicht auch nur drei, ich weiß es nicht mehr, es ist wirklich sehr spannend. Ich denke, der Beirat bietet auch die Möglichkeit, vielen unterschiedlichen Leuten aus allen Gesellschaftsschichten wirklich zuzuhören. Ich werde nur selten die Gelegenheit haben, mit einer Aktivistin und einem CEO zusammen an einem Tisch zu sitzen. Nicht wahr? Und einem Popstar. Oder? Es sind diese Gespräche in einem sicheren Raum, die wirklich, wirklich spannend sind. Diese Diskussionen zwischen verschiedenen Generationen, sozioökonomischen Gruppen und Ideologien sind sehr bereichernd. Als jemand, der Zuhören und Berichten und gewissermaßen auch Kanalisieren zu seinem Beruf gemacht hat, freue ich mich sehr darauf, bei Chime for Change ausgiebig zuhören zu können.
Sinéad Burke:
Ja. Jemand zu sein, der die Mächtigen herausfordern kann, aber auch von denen, die bislang wenig Einfluss hatten, herausgefordert zu werden, was wahrscheinlich sogar noch wichtiger ist.
Elina Dimitriadi:
Nur noch eine Frage zu deiner Einstellung zu Mode, Jeremy. Ich habe irgendwo gelesen, dass du mal gesagt hast, Theater und Mode sollten heiraten, weil sie so eine enge Beziehung zueinander haben.
Jeremy O. Harris:
Ja.
Elina Dimitriadi:
Warum hast du das gesagt? Wie ist deine Meinung dazu? Welche Beziehung hast du zu Mode?
Jeremy O. Harris:
Also ich glaube, eines der Dinge … Sinéad, ich glaube, du hast in deinem Interview mit Edward Enninful mal etwas ganz Ähnliches gesagt. Die Kleidung ist das, was die Leute als Erstes an uns sehen. Oder? Mir gefällt die Vorstellung, dass wir mit der Kleidung, die wir auf unserer Haut tragen, eine Geschichte erzählen. Ich bin jemand, der sehr viel darüber nachdenkt, welche Geschichte meine braune, meine schwarze Hautfarbe der Welt erzählt und wie dadurch alles komplizierter wird. Richtig? Das Verständnis der Schwarzen wurde schon immer durch die Kleidung, die sie tragen, geprägt. Darum hat Kleidung in der schwarzen Community einen sehr hohen Stellenwert.
Genauso wie das Auftreten. Sowohl um eine Geschichte zu erzählen für die Klasse, die uns unterdrückt, als auch manchmal ein Warnzeichen zu senden an die Klasse, die uns unterdrückt. Komm mir nicht zu nahe. Was ich wirklich faszinierend finde, eine der wichtigsten Stärken von Kleidung, über die wir kaum sprechen. Ich finde, diesen Hintergrund zu kennen, ist unbedingt nötig, und so, wie die Kleidungsstücke an den unterschiedlichen Körpern aussehen, kommt es mir wie ein Fehler vor, dass nicht mehr Modedesigner und Theaterkünstler ihre Talente vereinen, um mit einer Modenschau eine starke Geschichte zu erzählen, um die Geschichte der Kleidungsstücke in einem Stück mehr hervorzuheben, die Geschichte eingehender zu erzählen. Nicht wahr?
Vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zahlreiche solcher Kooperationen. Ich glaube, mit dem Aufkommen des Kinos hat sich etwas verändert und auch dadurch, dass man mehr Geld verdient, wenn Audrey Hepburn ein Kleid von Givenchy trägt, als wenn Elizabeth Marvel in einem Stück in New York ein Kleid von Givenchy trägt Ich glaube, dass wir uns jetzt auf eine Phase zubewegen, in der alles zugänglicher und demokratischer ist, in der ein Bild aus einem Stück genauso viral verbreitet werden kann wie ein Bild aus einem Film, wie wir bei Slave Play gesehen haben. Ich denke, die Chancen stehen gut, diese beiden Welten zu vereinen, zum Besseren. Nicht wahr?
Wie gesagt, im Theater geht es tatsächlich um kleine Gemeinschaften. Zurzeit geschieht das Theater in der Gemeinschaft, in der es spielt. Mode ist global. Wenn man dieses weltweite Kapital, diese globale Reichweite nutzen könnte, um mehr Gemeinschaften mit Kunst zu helfen, würden alle Beteiligten davon profitieren. Aber das ist nur meine persönliche Meinung.
Sinéad Burke:
Ich finde das großartig. Du hast vollkommen recht. Für mich ist das Theater eine der letzten Formen der Achtsamkeit, die es gibt.
Jeremy O. Harris:
Mm-hmm (zustimmend).
Sinéad Burke:
Zwischen dir und der Besetzung oder dir und dem Schauspieler gibt es eine intime Beziehung. Es ist, als ob man vor allen anderen aus dem Publikum flüchtet. Als ob man zu einem Publikum spricht, das aus nur einer Person besteht, so ähnlich wie dieser Podcast. Das ist sehr wichtig. Der Zusammenhang zwischen Mode und Kostümierung, also für mich ist Mode ein Mittel, um mein Aussehen zu verändern. Es ist etwas, das ich mir lange gewünscht und erhofft habe, weil die Annahmen der Leute, wer ich bin und was ich tun kann oder nicht, oft darauf basierten, wie ich aussah. Das lag an der Darstellung in Filmen, in denen oft nicht bedacht wurde, wie diese Rollen besetzt werden.
Mode gibt mir die Macht, eine neue Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die ich selbst geschrieben habe. Ob ich nun einen grünen Rollkragenpullover von Gucci trage, weil ich in Irland lebe und es Winter und kalt draußen ist, oder ob ich im Supermarkt einen Umhang trage, weil ich einfach Lust darauf habe, mich der Welt zu präsentieren. Das ist unheimlich wichtig. Man muss auch bedenken, dass Mode, also Kleidung, unsere Haut berührt. Wir haben diese emotionale Verbindung zur Modebranche, das gehört zu unserer Persönlichkeit. Das ändert sich auch durch die Arbeit im Homeoffice – man kann nackt herumlaufen, wenn man will.
In den meisten Ländern wird von offizieller Seite erwartet, dass man Kleidung trägt. Das ist eine der wenigen Branchen, zu der wir diese formelle Verbindung haben, sei es Mode oder Stil. Ich glaube, bei einer Branche, an der quasi jeder Mensch auf der Welt ein Interesse hat, welche Verantwortung tragen dann diese Unternehmen und die Branche als Ganzes, die Nachhaltigkeit, die Gerechtigkeit und vermutlich einfach die übergeordnete Bestimmung anzuerkennen, die nötig ist, um diese Gemeinschaften zu repräsentieren und mit ihnen zu interagieren?
Es gibt so viel zu lernen für uns. Um noch mal auf das Konzept der Kooperation zurückzukommen, glaube ich, wenn wir ein Modesystem entwerfen, bei dem es keine Reißverschlüsse mehr gibt, sondern nur noch Magnete und Klettverschlüsse, also das, womit Behinderte am besten klarkommen, dann haben alle etwas davon. Man muss kreativ, innovativ und fair an die Sache herangehen, aber man sollte auch die Rentabilität nicht vergessen. Es gibt keinen Grund, sich mit einem System abzufinden, nur weil es das schon immer gab.
Elina Dimitriadi:
Ja. Du denkst also, es besteht Hoffnung? Was gibt dir Hoffnung, was sorgt dafür, dass du weitermachst, der Gemeinschaft etwas zurückgibst und diese Welt zu einem besseren Ort machen willst?
Sinéad Burke:
Das klingt ja fast wie ein Song. Wie Jeremy schon sagte, wir beide gehören zu einer Generation, die – leider – nicht mehr jung ist, auch wenn wir unser Bestes geben und fleißig Antifaltencreme auftragen, damit wir … Aber nein. Wenn man sich die Generationen ansieht, die nach uns kommen, sieht man ihre absolute Zuversicht, dass Veränderungen möglich sind. Sie lassen sich nicht durch die vorhandenen Hindernisse aufhalten. Es gibt zugegebenermaßen noch immer systemische Herausforderungen und Unterdrückung.
Sie kämpfen unerbittlich um diese Veränderungen, indem sie zum Beispiel elf Stunden lang vor den US-Wahllokalen anstehen, um ihre Stimme abgeben zu können oder indem sie an Leute in Führungspositionen schreiben, um etwas zu verändern. Oder man sieht sich einen Film wie „Hexen hexen“ an und hinterfragt die Darstellung von Behinderungen in so einem Film, wie kann das heutzutage noch sein? Man muss aber auch die Veränderungen sehen, die bereits geschehen sind. Zum Beispiel Kerby Jean-Raymond, der mit Kering „Your Friends in New York“ gegründet hat. Ich finde, es sind Einzelne, die sich die Macht großer Institutionen zunutze machen, um … spürbare Veränderungen zu bewirken. Aber es gibt noch viel mehr zu tun.
Elina Dimitriadi:
Ja. Hast du …
Jeremy O. Harris:
Ich schnipse grade mit den Fingern. Ich stimme dir voll und ganz zu.
Elina Dimitriadi:
Ja. Ich nehme an, ihr werdet weiter kämpfen. Ich weiß nicht. Es gibt mir Hoffnung, dass ihr beide da draußen seid und kämpft und dass ihr weiter darüber nachdenkt, wie man das erreichen kann. Ich meine, Sinéad, du warst in Davos, und ich glaube, du hast es geschafft, dass die Leute dir wirklich zuhören. Ich kann es kaum erwarten, die Veränderungen zu erleben.
Sinéad Burke:
Danke. Geht mir genauso.
Jeremy O. Harris:
Das war ein tolles Gespräch.
Sinéad Burke:
Das war wunderbar. Vielen Dank, Elina. Danke auch an das Team bei Gucci.
Elina Dimitriadi:
Ich danke euch für diese angenehme Unterhaltung.
Gucci Podcast:
Vielen Dank, dass Sie sich diese Folge des Gucci Podcasts mit Sinéad Burke und Jeremy O. Harris angehört haben. Mehr über Chime for Change und deren Arbeit erfahren Sie in der Beschreibung der Folge.